Am 7. August 2025 erlebte das politische Berlin kurz vor der Sommerpause einen bedauerlichen, aber klugen Befreiungszug: Frau Professorin Dr. Frauke Brosius-Gersdorf (FBG) sagt ihre Kandidatur für das Richteramt am Bundesverfassungsgericht schriftlich ab. Die von ihr beauftragte Rechtsanwaltskanzlei verteilt ihre eindeutige Erklärung (LTO Legal Tribune Online, 07.08.2025).
Kommentar: … lehnen kategorisch ab, d. h., Zuhören, Abwägen, Lernen, also Diskussion und Kompromisssuche sind absolut ausgeschlossen. Ich frage mich, was diese Abgeordneten in einem demokratischen Parlament machen? Alles hört auf mein Kommando?! Oder steht dahinter, dass der eigene Kandidat möglicherweise hinter ihr verblassen könnte?
In ihrem Schreiben hat sie unter 2. noch mal auf das verfassungsrechtliche Dilemma im Zusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch hingewiesen, das auch die CDU/CSU-Abgeordneten kennen und verstehen sollten. Ihre Denklogik bezüglich eines Auswegs aus der Zwangslage, die z. Zt. bei keiner Entscheidung zu einer befriedigenden Lösung führt, kann man im Gespräch mit Markus Lanz (ZDF, 15.07.2025, ab 42.30 Minuten) gut nachvollziehen.
In ihrer Erklärung weist FBG die CDU/CSU-Fraktion und ihren Koalitionspartner SPD zusätzlich unter 3. darauf hin, dass „zwischen ihre Denkansätze zum Schwangerschaftsabbruch und der Aussage im von beiden beschlossenen Koalitionsvertrag kein Blatt passt“ (Kommentar im Gespräch mit Markus Lanz am 15.07.25).
Kommentar: Eine Ohrfeige für die Koalition und die sie tragenden Fraktionen.
Nach ihrer Erklärung wird deutlich, dass es bei dieser Aufkündigung der Richterwahl nur Verlierer gibt: CDU/CSU-Fraktion, SPD-Fraktion, die Koalition als Stütze der Bundesregierung, das Parlament, das Bundesverfassungsgericht, insgesamt die demokratischen Institutionen.
Frau Brosius-Gersdorf gehört zum Glück nicht dazu. Ob aber ihre Hoffnung in Erfüllung geht, die beiden Co-Kandidat*innen und das Bundesverfassungsgericht durch ihren bemerkenswerten, absolut souveränen Rückzug zu schützen, bleibt abzuwarten.
Einsichten? Entschuldigungen?
Die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion scheinen offensichtlich überfordert gewesen zu sein. Die innerfraktionelle Kommunikation kommt mangelhaft rüber, eine Abwehrchance gegenüber dem rechten und kirchlichen Shitstorm bestand nicht bzw. wurde nicht gesucht. Wenn man nach Entschuldigungen in den Medien (der Bundestag debattiert nicht, er hat Sommerpause) sucht, die evtl. auch Einsicht signalisieren könnten, wird man nicht fündig. Der Eindruck, bezogen auf die Entscheidungsfindung in der CDU/CSU-Fraktion, wird eher düsterer:
- Thorsten Frei (Chef Bundeskanzleramt, Vertrauter von F. Merz): Frau Brosius-Gersdorf sei „unzweifelhaft eine untadelige Juristin“, sei „aber nicht mehrheitsfähig und von Anfang an sehr umstritten gewesen“. [Tagesspiegel, 08.08.25] Kommentar: FBG hat ihre Stellungnahmen, z. B. als Mitglied in einer vom Bundestag beauftragten Kommission von Professor*innen, zum Schwangerschaftsabbruch als Rechtswissenschaftlerin abgegeben, laut Frei untadelig. 8 Wochen lang gehörte sie zum gemeinsamen Wahlvorschlag von CDU/CSU und SPD, mit Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke; dieser Vorschlag wurde vom Richterwahlausschuss mit 2/3-Mehrheit beschlossen. Was ist daran bitte nicht mehrheitsfähig?
- Jens Spahn (CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender) zollt FBG Respekt für ihren Rückzug. „Jenseits der sachlichen Auseinandersetzung gab es herabsetzende und beleidigende Kritik, die Frau Prof. Brosius-Gersdorf in den letzten Wochen erdulden musste. Dies verurteilen wir ausdrücklich.“ Mit der SPD wolle er nun gemeinsame Lösungen finden. „Ich bedauere, dass diese Lage auch durch die zu späte Ansprache unserer inhaltlichen Bedenken entstehen konnte.“ [BR24, 07.08.25] Kommentar: Herabsetzungen und Beleidigungen gab es auch aus seiner Fraktion. Es war sein gemeinsamer Vorschlag. Wo bleiben Haltung und Anstand? Wer ist „wir“ und was ist die „Lage“? Bei der Absage der Wahl im Bundestag spielten inhaltliche Bedenken keine Rolle, es ging vielmehr um den am gleichen Tag erhobenen Plagiatsvorwurf gegen FBG, der offensichtlich und sehr willkommen für bare Münze genommen wurde.
- Mathias Middelberg (CDU/CSU-Fraktionsvize) hält eine Entschuldigung seiner Partei gegenüber der SPD und auch der Juraprofessorin selbst für angebracht. Die Fraktionsführung hätte die gewichtigen Bedenken gegen Brosius-Gersdorf früher erkennen müssen, die CDU/CSU habe sich gegenüber der SPD „nicht sauber und korrekt verhalten“. Es habe zweifellos Kampagnen gegen Brosius-Gersdorf gegeben. Aber das sei nicht maßgeblich für die Entscheidung in der Unionsfraktion gewesen. Dort habe es in erheblichen Teilen große Bedenken wegen ihrer Positionen zum Schutz ungeborenen Lebens gegeben. „Das war für uns das maßgebliche Kriterium, diesen Vorschlag, diesen Personalvorschlag am Ende dann abzulehnen.“ [Zeit, 09.08.25] Kommentar: 8 Wochen lang gab es keine gewichtigen Bedenken und maßgeblichen Kriterien. Welcher Art waren sie? Deshalb stimmten die 5 CDU-CSU-Fraktionsmitglieder im Richterwahlausschuss – die scheinen lt. Middelberg taub und nicht kommunikationsfähig zu sein – folgerichtig am 07.07.25 zu und verschafften ihr die 2/3-Mehrheit. Am 11.07.25, 4 Tage später, ging der Wahlvorschlag im Trommelfeuer von Bild, Nius, katholischer Kirche, CitizenGo, AfD- und CDU/CSU-Fraktion unter. Dass der Mann, selbst Jurist, der mit seiner Klage gegen den Klima- und Transformations-Fonds der Ampel vor dem BVerG Recht bekommen hat, sich so wenig sachgerecht zu Wort meldet, ist schon erstaunlich.
- Steffen Bilger (Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, ordentliches Mitglied im Richterwahlausschuss): „Es ist ganz klar, dass diese Richterwahl nicht gut gelaufen ist.“ Es seien Fehler gemacht worden, sicherlich auch von der Union. Rückblickend müsse man einfach sagen, dass die SPD einen polarisierenden Vorschlag gemacht habe, wir die Brisanz zu spät erkannt hätten. „Und dann ist es uns als Koalition gemeinsam nicht gelungen, einen Weg zu finden, diese Situation zu lösen. Und so sind wir tatsächlich in schweres Fahrwasser gekommen als Koalition.“ [Tagesspiegel, 08.08.25] Kommentar: Er hat FBG im Ausschuss ca. 20 Minuten befragt, sie hat Antworten gegeben, Standing gezeigt. Er hat ihr, hoffentlich deshalb, mit seiner Stimme zur Mehrheit verholfen. Hat er verstanden, worüber er debattiert und abgestimmt hat? Ist er sich, an diesem Tag mit seiner Entscheidung, der Bedeutung des Einstiegs in den Rollenwechsel, den diese Frau von der untadeligen |s. Frei, CDU] Verfassungsrechtlerin zur unvoreingenommen, kollegial entscheidenden Verfassungsrichterin vollziehen wollte, bewusst gewesen?
- Stephan Brandner (AfD-Fraktion, stellvertr. Bundessprecher, ordentliches Mitglied im Richterwahlausschuss) nannte den Schritt „längst überfällig und einen kleinen Sieg der Vernunft“. Die weiteren Probleme löse er aber nicht , denn außer FBG dürfe auch die weitere SPD-Kandidatin Kaufhold nicht Richterin am Bundesverfassungsgericht werden [BR24, 07.08.25].
Fazit
Das weitere Ziel der Kampagne ist von der AfD benannt. Es ist zu befürchten, dass es der CDU/CSU an einer Strategie fehlt, mit der in Teilen rechtsextremen Partei kurz- und mittelfristig umzugehen. Zwar hatte F. Merz 2018 bei seiner Wahl zum Parteivorsitzenden versprochen, die AfD zu halbieren [Welt, 14.11.2018]. Wir werden sehen, welchen Vorschlag die Koalition unterbreitet und ob FBG tatsächlich durch ihren Verzicht ihre Kolleg*innen schützen konnte. Möglich ist, dass die CDU/CSU-Fraktion auf Zeit spielt und das Verfassungsgericht selbst mit einem Namensvorschlag in den Ring steigen lassen wird. Dann kann man die eigenen Hände in Unschuld waschen. Ob man wirklich tatenlos zuschaut, wie das BVerG beschädigt wird?
Die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion haben sich bis in die Spitzen hinein von dem Druck aus der Kampagne verunsichern lassen (s. auch „Fähnchen im Wind … „). Da gab es sicher welche, die sich aus Überzeugung verweigert haben, ohne allerdings der Kandidatin die Chance zur Gegenrede zu geben. Da gab es aber auch viele, die aus Naivität panisch reagiert haben, was die draußen Stehenden rund um die radikale Rechte sich gewünscht und dann auch beklatscht haben. Die Falle ist erfolgreich zugeschnappt. Für die Zukunft überhaupt kein gutes Omen.
Eine klare Haltung (B90/Die Grünen, 07.08.25) zum Schluss
Dieter Wiebusch