Zwei Festveranstaltungen zum Geburtstag des Grundgesetzes

In Pirna gab es in diesem Jahr ein Kuriosum: Der 75. Geburtstag des Grundgesetzes (GG) wurde mit zwei, sehr unterschiedlichen Festveranstaltungen begangen.

Der erste Festakt fand am 04..Juni in der Marienkirche statt, der zweite am 03. Juli in der Herderhalle.

Die Genese

Nachdem der Stadtrat den Oberbürgermeister (OB) Tim Lochner beauftragt hatte, eine Festveranstaltung zum Jahrestag des GG durchzuführen, kam der diesem Auftrag zunächst nicht nach. Auch der Ratssaal stand nicht zur Verfügung. Daraufhin organisierten die Fraktionen von CDU, Bündnis 90-Die Grünen/ SPD und Die Linke eine Veranstaltung in der Marienkirche. Die Festrede hielt Dr. Peter Neumann, ein Historiker.

Der OB, der dem Auftrag aber doch nachkommen musste, ließ die Stadtverwaltung eine weitere Veranstaltung organisieren. Als Festredner war Prof. Norbert Bolz, ein emeritierter Medienwissenschaftler, geladen.

Die Gemeinsamkeiten

In beiden Veranstaltungen gab es eine Moderation, einen Redner, eine freundliche, musikalische Umrahmung und ein zahlreich erschienenes Publikum. In die Marienkirche kamen ca. 200 Menschen, in die Herderhalle ca. 100. Im Inhalt jedoch unterschieden sich die Festakte fundamental.

Die Unterschiede

Die Moderation

In St. Marien lag die Moderation in kirchlichen Händen. Sachlich, in Ton und Sprache dem Anlass angemessen, führte der Moderator in das Programm ein und begleitete es weiter.

In der Herderhalle schlug die Moderatorin von Anfang an einen anderen Ton an. Sie stellte sich sogleich als Opfer des MDR vor. Der OB wurde launig interviewt, der Festredner als Teil der geistigen Elite Deutschlands vorgestellt. Nach der Rede wurden auch die beiden jugendlichen Musikerinnen interviewt, die beide auf sehr hohem Niveau spielten. Es wurde nach allerlei Persönlichem und insistierend nach dem Schulfest gefragt, das vor Kurzem stattgefunden hatte. Der Besuch des OB (zu diesem Zeitpunkt Kandidat der AfD für den Stadtrat und Kreistag) hatte viele Diskussionen und Proteste ausgelöst. Insgesamt wurde klar, dass die Moderatorin ihre Rolle für die eigene politische Agenda nutzte.

Die Festredner

Der Historiker Neumann blätterte die Geschichte und Vorgeschichte (Paulskirche und 1948er Märzrevolution) sehr detailliert auf. Das war für die einen eine höchst interessante Vorlesung in deutscher Geschichte und für die anderen doch schwer verdauliche Kost. Auf alle Fälle blieb der Redner beim Thema und wies am Ende auf die Verantwortung heutiger Generationen hin, die sich aus dem Geist und den Buchstaben des GG ergeben. Gewonnen hätte der Vortrag sicherlich noch durch eine Würdigung des Verfassungsentwurfes des Runden Tisches, der genauso wie der § 146 GG keine Beachtung fand.

Der Medienwissenschaftler Bolz wählte einen völlig anderen Zugriff auf das Thema. Er verwies auf Thomas Hobbes (1588 – 1679), der aus den verheerenden Religionskriegen den Schluss zog, dass der Staat und das durch ihn durchgesetzte Positive Recht im Gegensatz zum Naturrecht die Menschen aus diesen Kriegen erlösen kann. Bolz kam dann zu dem Schluss, dass das GG für die Bürger*innen der Bundesrepublik quasi eine Zivilreligion sei. Denn an irgendetwas müsse man ja schließlich glauben.

Nach diesem bemerkenswerten Einstieg wurde schnell klar, worum es dem Herrn Bolz in Wirklichkeit ging: Er nutzte sein philosophisches Wissen, das ihm die nötige Reputation verschaffte, um zum Rundumschlag auszuholen: Gegen den Islam, gegen die EU, gegen die Universitäten, vor allem gegen die Geisteswissenschaften, gegen Wokeness. Diesen Begriff erläuterte er nicht, malte ihn aber als schreckliches Gespenst, ja geradezu als Hauptproblem an die Wand. Weiter ging es gegen die „Pathologisierung des Normalen“, gegen Bürgerräte und natürlich, wir ahnen es schon, gegen die Grünen. Hier schreckte er auch vor Falschaussagen nicht zurück. Dem Co-Vorsitzenden Omid Nouripour unterstellte er z. B. , die Scharia in Deutschland einführen zu wollen. „Googeln Sie, wenn Sie es nicht glauben.“ Einige taten dies auch sofort und stellten fest, dass die Aussage nur verkürzt und damit in ihrem Inhalt verfälscht wiedergegeben wurde. Nouripour schlug tatsächlich vor, dass diejenigen Glaubensvorschriften, die mit dem GG vereinbar sind, auch gelebt werden dürfen. Das Originalvideo mit seiner Aussage ist hier zu finden.

Die Bürgerräte diffamierte er mit der Aussage, dass die Teilnehmer*innen handverlesen, nach bestimmten Kriterien ausgesucht seien und damit nicht den Querschnitt der Bevölkerung darstellen würden. War das naiv oder wiederum bewusst falsch? In Pirna, sowie in anderen Städten und Gemeinden bzw. auf Bundesebene wurden die Bürgerrät*innen jedenfalls ausgelost. Das ist absoluter Standard, aber wird von manchem Angehörigen der „geistigen Elite“ gerne übersehen.

Alles in allem wurde dieser Festvortrag in keiner Weise dem Thema gerecht, er war tendenziös, bevormundend und in Teilen ohne wissenschaftlichen Anspruch.

Die Diskussion

Eine Diskussion war nur in der Herderhalle vorgesehen. Es wurden Fragen gestellt, z. B. zum § 146 GG und zur direkten Demokratie in Deutschland. Auf Widerspruch zur Rede reagierte das Publikum z. T. mit Buhrufen und der Redner mit arroganten Unterstellungen („Sie haben nicht richtig zugehört.“ „Das habe ich nicht gesagt.“ etc.). Die Moderatorin sorgte nicht für die Einhaltung üblicher Kommunikationsregeln. Diese waren auch gar nicht erst aufgestellt worden. Außerdem fühlte sich das Publikum durch den Redner ermuntert, alles, was als „nicht normal“, als „pathologisch“ gesehen wurde, ausbuhen zu dürfen. Wird das jetzt „normal“ in Pirna? Eine wirklich kontroverse, von Argumenten getragene Diskussion sieht anders aus.

Fazit

Auch wenn der OB sich freut, dass die Veranstaltung in der Herderhalle so schön kontrovers war. Diesen Anschein wollte er auf jeden Fall mit der Inszenierung erwecken. Tatsächlich hat die Veranstaltung durch die Auswahl von Moderatorin und Redner wieder einmal gezeigt, welche politische Agenda in Pirna von der Rathausspitze verfolgt wird. Das demokratische Mäntelchen, das darum drapiert wird, ist allerdings ziemlich dünn.

Die Veranstaltung in der Marienkirche wurde allgemein mit den Attributen „würdevoll“ und „respektvoll“ beschrieben. Diesen Standard müssen wir unbedingt halten!

Dr. Bärbel Falke