Regenbogen am Kirchturm: Wer Flaggen sucht, wird Flaggen finden

Eine Regenbogenflagge am Kirchturm der Marienkirche sorgte zum IDAHOBIT 2024 beim Oberbürgermeister Tim Lochner für den Impuls, ideologische Knöpfe zu drücken. Die Analyse zeigt: Man sollte nicht alles glauben, was man denkt. (Symbolbild / Quelle: privat)
Eine Regenbogenflagge am Kirchturm der Marienkirche sorgte zum IDAHOBIT 2024 beim Oberbürgermeister Tim Lochner für den Impuls, ideologische Knöpfe zu drücken. Die Analyse zeigt: Man sollte nicht alles glauben, was man denkt. (Symbolbild / Quelle: privat)

Mal wieder Lochner, mal wieder die AfD mit ihren verdrehten NS-Vergleichen, die im Grunde nur von der eigenen Ideologie ablenken oder sie bestenfalls verharmlosen sollen. Eigentlich ist das Spiel längst bekannt: Rechtsextreme lassen eine verächtliche, aber medienwirksame Bemerkung vom Stapel und alle, die an einer sinnvollen sowie der Gesellschaft dienlichen Debatte interessiert sind, dürfen dann die Aufklärungsarbeit leisten, die der Einordnung des Ganzen dienlich ist. Na, dann mal los. Auf ein Neues…

Oberbürgermeister Lochner und der Staat

In reinster AfD-Manier ließ es sich Tim Lochner, der derzeitige Oberbürgermeister von Pirna, nicht nehmen, die Marienkirche der Stadt Pirna als „Staatskirche“ zu bezeichnen, weil zum Anlass des internationalen Tages gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie (sog. IDAHOBIT) eine Regenbogenflagge an ihrem Turm angebracht war. In einem mittlerweile gelöschten Facebook-Beitrag schrieb Lochner laut dem MDR: „Wenn wir ganz tief recherchieren, werden wir Belege finden, dass auch Fahnen mit Kreuz und Haken an der Marienkirche hingen… Kurz: es war Staatskirche, es ist Staatskirche.“ – Keine Ahnung, wer mit „wir“ gemeint ist, aber warum an diesem Punkt mit der Recherche aufhören?

Dass Lochner ein Problem mit dem Staat hat, das ist ja bekannt. Auch mit der Regierung und den Medien in Deutschland hat er bekanntlich ein Problem. So sehr sogar, dass er alledem abgeschworen hat. Und dass dieser Schwur immer gelte, das bestätigte er bereits öffentlich. Natürlich ist es für ihn trotzdem kein Problem, in einem staatlichen Amt zu sitzen und sich den Medien gegenüber zu öffnen – etwa hinsichtlich der wirtschaftlich-politisch motivierten China-Reise in 2019 (u. a. mit Maximilian Krah) und den möglicherweise wieder aufzunehmenden China-Verbindungen im Rahmen der Oberbürgermeistertätigkeiten (Quelle).

Aber ich schweife ab… Tim Lochner als Oberbürgermeister von AfDs Segen hat nun also nach einem Flaggenvergleich gesucht, ihn gefunden und ihn so verdreht, dass er die rechtsextreme Erzählung von etwas Staatsnahem als gleichzeitig etwas negativ zu Betrachtendem heranzieht. Dass das von langer Hand als Plan B geplant war, kann man ihm dabei nur unterstellen. Plan A war ja, die Regenbogenflagge vor dem Rathaus zu verbieten, um sie aus dem Bild der Altstadt zu entfernen. Vor dem Rathaus flattert sie nun vorerst nicht mehr, aber aus der Altstadt konnte Lochner den Regenbogen nicht tilgen. Also musste mal wieder zur Polemik gegriffen werden.

Von Kausalität und Korrelation

Wie man beim Lesen des Facebook-Beitrags erkennen kann, kommt darin keine Kausalität (tatsächliche Beziehung zwischen Ursache und Wirkung) zur Anwendung. Stattdessen wird hier der rechtsextremen Erzählweise zugutekommend die Korrelation (Scheinzusammenhang aus zufällig verbindbaren Einzelereignissen) bedient. Dieses Heranziehen einer Scheinkausalität tritt Gedankengänge los, die Verbindungen zur Folge haben, welche schlussendlich Feindbilder entstehen lassen. Ein alter Trick, gegen den man sich immer folgende Maxime in den Kopf rufen sollte: Man darf nicht alles glauben, was man denkt. Denn nur weil man sich Zusammenhänge ausdenkt, sind sie nicht automatisch wahr.

Spuren der NS-Zeit in Pirna

Wenn „wir“ mal – sozusagen als Experiment und tatsächlich auch ein bisschen widerstrebend – den Korrelationen Lochners folgen, dann finden wir in Pirna nicht wenige Möglichkeiten, um Einrichtungen und Institutionen der Staats- respektive der NS-Nähe zu bezichtigen. Und das eben nur aufgrund einer örtlichen Nähe zu den Standorten der Nazis zwischen 1933 und 1945. Schauen wir uns auf dem Sonnenstein um, dann gibt es mehrere Gebäude sowie darin eingerichtete Unternehmen, Wohnungen, Verwaltungseinrichtungen und dergleichen mehr.

Sollen „wir“ nun allen dort wohnenden und arbeitenden Leuten aufgrund der geografischen Nähe zur ehemaligen Tötungsanstalt sowie der „Adolf-Hitler-Schule Gau Sachsen“, der ebenfalls ehemals dort eingerichteten Reichsverwaltungsschule oder des Wehrmachtslazaretts eine entsprechende ideologische Nähe zuschreiben? Und sollen „wir“ Institutionen wie der Evangelisch-Lutherischen Kirchgemeinde Pirna eine Rolle als „Staatskirche“ zuschreiben, weil sie etwas macht, was der dem Staat abgeschworene Oberbürgermeister nicht mag? Meine Meinung: Nein.

Was ist eigentlich eine „Staatskirche“?

Der Begriff „Staatskirche“ beschreibt eine Religionsgemeinschaft, die per Gesetz als offizielle Religion des betreffenden Staats festgelegt ist. Gibt es in einem Land eine Staatskirche, dann ist davon auszugehen, dass bestimmte Gesetze und rechtliche Entscheidungen auf den Grundsätzen der Religion gefasst werden. Das heißt im Umkehrschluss, dass sich der Staat nach der Kirche richten muss. Aber Lochner meint das Gegenteil: die Kirche hat sich angeblich nach dem Staat gerichtet und eine Flagge gehisst, die angeblich von diesem Feindbild Staat vorgegeben wurde. Und da sieht man es wieder: Man darf nicht alles glauben, was man denkt.

Wer Fortschritt als Unkraut betrachtet, wird Kreuze mit Haken ernten

Wir müssen also gar nicht „tief recherchieren“, um herauszufinden, dass der neueste Medienaufhänger Lochners nur ein Gedanken- und Wortspiel ist, das als längst erprobter Gedankenanstoß dazu dienen soll, bereits rechts angehauchten Zuhörer*innen einen weiteren Floh ins Ohr zu setzen. Dabei soll gar nicht recherchiert oder auch nur im Ansatz der tatsächliche Grund für die kritisierte Aktion erörtert werden. Sinn und Zweck ist einfach nur, ein etabliertes Feindbild („der Staat“) um eine sich gegen das rechtsextreme Gedankengut der AfD auflehnende Institution (in diesem Fall die Marienkirche) zu erweitern.

Jetzt kann man sich fragen: Wird das wieder passieren? Nun, diese Sorge werde ich Ihnen nicht nehmen können.

Johannes Domke