Fähnchen im Wind – leichte Beute fürs Spinnennetz

Noch ist sie nicht erfolgt, die Nachwahl von drei Richter*innen für das Bundesverfassungsgericht (BVerG). Sie ist eingefangen worden im Spinnennetz eines rechten Shitstorms, der sich klebrig vor allem über eine der drei Kandidat*innen gelegt hat. Die Fäden-Zieher im Inneren des Netzes können nun in Ruhe abwarten – ihre Arbeit ist getan. Professorin Frauke Brosius-Gersdorf ist evtl. zu einer leichten Beute geworden durch die Fahnenflucht von Teilen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die sie fallengelassen hat wie eine heiße Kartoffel.

Was hat das mit Pirna zu tun? Dieser Artikel richtet sich u. a. an die CDU und ihre Anhängerschaft sowie Gruppen in der katholischen Kirche, in Zukunft deutlich mehr darauf zu achten, wem und welcher Position sie Beifall klatschen wollen.

Der Artikel geht mit einer Reihe von Fakten auf folgende Inhalte ein:

  • Arbeitsweise und Berufsbild am Bundesverfassungsgericht
  • Richterwahl in unserer Demokratie
  • Diskreditierung von Professorin Dr. Frauke Brosius-Gersdorf
  • Kulturkampf um den Schwangerschaftsabbruch
  • Schwangerschaftsabbruch und Verfassungs-/Strafrecht
  • eingestreut sind eigene politische Kommentare und kurze Übertragungen auf die Situation vor Ort.

Ich wünsche Ihnen viele neue Erkenntnisse beim Lesen!!!

Die Arbeitsweise am Bundesverfassungsgericht – ein klar definiertes Berufsbild!

Der CDU-Kandidat Spinner ist für den 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts vorgesehen, Frau Kaufhold und Frau Brosius-Gersdorf (beide Kandidatinnen der SPD) sollen dem 2. Senat angehören.

Das Kollegium der 16 Richter*innen am BVerG hat allgemein den Auftrag, das Grundgesetz zu wahren im Sinne von buchstabengetreuer Auslegung, zu bewahren im Sinne von Konstanz. Acht Richter*innen entscheiden jeweils in ihren Senaten kollegial. Jeder Urteilsverkündung liegen also vielfältige Sichtweisen und Argumentationen zum Fall zugrunde. Die Richter*innen kreieren keine eigenen Fälle. An das Gericht werden Beschwerden von Verfassungsorganen und/oder von Bürger*innen herangetragen. Die Richter*innen berücksichtigen bei ihren Entscheidungen den augenblicklichen Stand der juristischen Wissenschaft inklusive der Rechtsprechungen anderer Gerichte sowie die gesellschaftlichen Veränderungen. Dies begründet auch die Dynamik, die das Bundesverfassungsgericht im Laufe seines Daseins bezogen auf die Auslegung des Grundgesetzes entwickelt hat. Noch 1957 entschied es sich z. B. für die Strafverfolgung von Homosexuellen. 1994 wurde dagegen die Rechtfertigung für die Strafbarkeit homosexueller Handlungen aufgegeben und § 175 abgeschafft, beides im Kontext mit grundgesetzlichen Festlegungen. Normal ist also, dass Verfassungsrichter*innen weder individuell noch als Gruppe konstant bei denselben Argumentationsmustern in ihrer Amtszeit bleiben. Schon allein durch die Fluktuation aufgrund der Nachwahlen ergeben sich neue Impulse, die ans Gericht gelangen. Richter*innen am BVerG behalten ihr Amt für 12 Jahre, eine Wiederwahl ist ausgeschlossen.

Sie bemerken sicherlich hier und bei den folgenden Ausführungen die großen Unterschiede zur Situation am Supreme Court der USA.

Quintessenz: Die Richter*innen am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, oberstes Organ der Judikative (3. Gewalt im demokratischen System), sind demokratisch legitimiert und handeln mit ihrem juristischen Handwerkszeug in einem transparenten Rahmen. Ihre Maßstäbe sind die Artikel und Festlegungen des Grundgesetzes, ihre Urteile fällen sie unabhängig von Parlament (Legislative) oder Regierung (Exekutive).

Wie schädlich rechte Kampagnen gegen die politischen Prozesse bzw. Verwaltung sein können, beobachten wir in den USA und haben wir im Kleinen für Pirna in „Politik-Simulation“ beispielhaft aufgezeigt. 

Richterwahl, eigentlich eine eingespielte Prozedur in unserer Demokratie.

Persönlichkeiten werden für die Wahl als Richter*in am Bundesverfassungsgericht nach im Bundestag verabredetem Quorum (CDU/SPD/Grüne/FDP = 3:3:1:1) von Parteien vorgeschlagen. Parteien suchen Menschen aus, die fachliche Expertise und sich als Personen mit Haltung im öffentlichen Raum bewiesen haben.

Der CDU/CSU-Fraktion standen für diesen Wahlgang eine, der SPD-Fraktion zwei Kandidat*innen zu. Beide Fraktionen einigten sich vor ca. 8 Wochen auf einen gemeinsamen Vorschlag, u. a. mit Professorin Dr. Brosius-Gersdorf. Für den Vorschlag warben die Fraktionsvorsitzenden Jens Spahn (CDU/CSU) und Matthias Miersch (SPD) auch bei der Fraktion von Bündnis 90 / Die Grünen um Zustimmung. Dieses Vorgehen ist bei der gegenwärtigen Sitzverteilung im Deutschen Bundestag notwendig, um zu einer qualifizierten Zwei-Drittel-Mehrheit für den zur Abstimmung stehenden Vorschlag zu kommen.

Der vom Parlament eingerichtete Richterwahlausschuss hat am 07.07.2025 die drei vorgeschlagenen Personen jeweils nach ausführlicher Anhörung mit der erforderlichen 2/3-Mehrheit gewählt und dies auch dem Plenum des Bundestages empfohlen. Vier Tage später, am 11.07.2025, gab es plötzlich zahlreiche Bedenkenträger*innen innerhalb der CDU/CSU-Fraktion gegenüber Frauke Brosius-Gersdorf als Kandidatin. Ca. 60 Abgeordnete von CDU/CSU waren offensichtlich durch das wochenlange Trommelfeuer mit Drohungen, Falschaussagen, Hass-Posts und Mails sowie begleitenden Zeitungsartikeln, selbst in Predigten, weich gekocht worden und verweigerten ihre Zustimmung. Die argumentative Gegenwehr von Bundeskanzler Merz sowie der CDU/CSU-Fraktionsspitze blieb aus und/oder verfehlte ihre Wirkung. Da damit die qualifizierte Mehrheit für den gemeinsamen Vorschlag nicht mehr sicher war, stoppte Jens Spahn unter höhnischem Lachen der AfD-Fraktion den Wahlgang mit einem entsprechenden Antrag im Bundestagsplenum.

  1. Politischer Kommentar:
  • Die Antreiber*innen der Kampagne haben erfolgreich Zweifel gesät. So kippte öffentlicher Kampagnen-Druck von der Kanzel, Straße sowie im Netz mit Lautstärke, Fehlinformationen, Lüge, Hass und Erpressung eine langfristig vorbereitete Parlamentsentscheidung. Und die CDU/CSU-Fraktion hat dadurch, dass sie Teil der Kampagne geworden ist, dazu beigetragen, das Vertrauen in die Unabhängigkeit des Gerichts und seiner Richter*innen zu beschädigen. Wie nachhaltig, wird die Zukunft zeigen.
  • Sehr fragwürdig und in sich inkonsistent ist ein weiteres Vorgehen der CDU/CSU-Fraktion. Sie hat mit gutem Grund in der Vergangenheit mit ihrem Stimmgewicht dazu beigetragen, dass das BVerG als oberstes Verfassungsorgan vor Feinden der Demokratie besser geschützt ist. Die 2-Drittel-Mehrheiten als Hürde im Richterwahlausschuss und Plenum des Bundestags wurden mit 2/3-Mehrheit beschlossen. Die automatische Übertragung der Entscheidungsmacht bei der Richterwahl auf den Bundesrat wurde gesetzlich festgelegt, falls sich der Bundestag nicht mit qualifizierter Mehrheit auf einen Wahlvorschlag in der zur Verfügung stehenden Zeit einigen kann. Alles sollte dafür getan sein, dass die wichtige, plurale Entscheidungsgrundlage für die Richterwahl weiterhin gegeben und eine parteipolitische Orientierung in diesem Amt, selbst im Ansatz, ausgeschlossen ist. Und nun argumentiert die Fraktion, dass sie eine Kandidatin mit hoher Reputation und Eignung für das Amt nicht wählen kann, weil diese nicht die gleichen Positionen in Sachfragen vertritt wie die CDU/CSU-Fraktion. Das ist der machtpolitische Offenbarungseid.
  • Die veröffentlichte Strategie der AfD für die Ergreifung der Macht in Deutschland arbeitet mit der „Verzwergung der CDU“ – sie soll von innen her sich auflösen bzw. aufgelöst werden. Durch die Kopie der aggressiven Sprache und die bedenkenlose Übernahme von AfD-Forderungen (Migration, Staatsangehörigkeitsgesetz, Energiepolitik, Gender- und Queer-Phobie etc.) hat die Union mit ihren Repräsentant*innen die AfD zum Gang in die Mitte eingeladen, ihr quasi Normalität verschafft. Nun trägt sie durch ein weiteres Abstimmungschaos im Bundestag (nach dem Kotau beim Migrationsgesetz und der Kanzlerwahl) dazu bei, sich selbst und die gemeinsame Regierung aus CDU/CSU und SPD öffentlich zu beschädigen. Sie verbreitert ohne Not die Kluft zwischen sich und ihrem Koalitionspartner sowie ihren jeweiligen Anhänger*innen in der Gesellschaft. Sie unterstützt damit das strategische Ziel der AfD, die Mitte zu zerbröseln. Politisch dümmer kann man sich nicht anstellen.

Prozeduren bestimmen auch die Situation in Pirna. Der OB ist Chef der Verwaltung, die handelnde Seite der Exekutive vor Ort. Und der OB ist gleichzeitig Chef des Rats, der mit seinen Beschlüssen Vorgaben für die Verwaltung erlässt und gleichzeitig auch das Recht hat, die Verwaltung durch Anfragen zu kontrollieren. Die Verwaltung bereitet Sachzusammenhänge auf und gibt dem Rat, gestützt auf Rechtsvorschriften und finanzielle Rahmenvorgaben, Empfehlungen für seine Entscheidungen. Das Chaos bei der Einbahnstraßen-Regelung, der Grundsteuer C, der Ausweisung von PV-Freiflächen zeigt, was passiert, wenn Populismus und Stimmungsmache sich in diese Abläufe hineindrängen.

Womit und wie wurde Professorin Dr. Frauke Brosius-Gersdorf diskreditiert?

Im Wesentlichen haben sich die Träger*innen der Kampagne und dann auch Teile der CDU/CSU-Fraktion aus dem riesigen Arbeits-Portfolio der Professorin für Öffentliches Recht (Schwerpunkte Verfassungs- und Sozialrecht) an der Universität Potsdam vier Inhalte herausgesucht. Sie kann man durch Lügen und Überzeichnungen leicht skandalisieren, um die Frau als inakzeptabel für die Wahl zur Richterin am BVerG erscheinen zu lassen:

  • Abtreibung und Aufhebung der Rechtswidrigkeit,
  • Impf- und staatliche Fürsorgepflicht zu Corona-Zeiten,
  • Kopftuch-Tragen und Neutralität im öffentlichen Dienst sowie
  • AfD-Verbotsverfahren und wehrhafte Demokratie.

Wie ein dazu passender Paukenschlag kam am Wahltag der Vorwurf des Plagiats bei der Doktorarbeit aus 1997 hinzu. Dieser hat sich jedoch schon am gleichen Tag in Luft aufgelöst, was ein erstaunliches Licht auf die mangelnde Sorgfaltspflicht der CDU/CSU-Parlamentarier*innen im Politikbetrieb wirft.

Zu den oben genannten Themen hat die Kandidatin Brosius-Gersdorf als Wissenschaftlerin Stellungnahmen verfasst. Zu welchen verfassungsrechtlichen Überlegungen sie gekommen ist, erläutert Brosius-Gersdorf sehr ausführlich und hörenswert im TV-Interview bei Markus Lanz am 15. Juli 2025.

Interessierte Kreise machen es sich leicht und handeln verantwortungslos, wenn sie aus einem kompliziert angelegten Zwischenbericht Parolen ableiten, Sachverhalte verzerren und Sachbearbeiter, die ihre Pflichten im Amt erledigen, durch aus dem Zusammenhang gerissene Aussagen beleidigen. Das zeigte sich jüngst am Beispiel  „Wärmeplanung“ in Pirna. Das Ziel der Kampagne ist, durch konzertierte Aktionen handelnde Personen in ihrer Autorität zu beschädigen und Institutionen herabzuwürdigen. Diesem Angriff müssen wir begegnen, weil das vertrauensvolle, regelgestützte Wechselspiel zwischen Bürger*innen und Verwaltungsebenen in einer Demokratie wertvoll ist.

Kulturkampf am Beispiel „Schwangerschaftsabbruch“.

Feministische Pro-Choice-Aktivist*innen und radikale Pro-Life-Fundamentalist*innen stehen sich bei diesem Thema seit Jahrzehnten gegenüber. Der bestehende Konflikt wird in der Kampagne zur Richterwahl genutzt und mit der Plakatierung von Frauke Brosius-Gersdorf als vermeintliche Aktivistin angeheizt. Elektrisiert entziehen Teile der CDU/CSU-Fraktion ihr postwendend quasi über Nacht das im Richterwahlausschuss ausgesprochene Vertrauen. Obwohl sie es eigentlich besser wissen müssten und könnten (s. u.). Und helfen der Kampagne damit einen wesentlichen Schritt weiter.

Warum ist das so wirkungsvoll gewesen? Weil die Themenkomplexe

  • Lebensschutz und Menschenwürde,
  • Recht von Frauen am eigenen Bauch,
  • reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin,
  • Pränataldiagnostik und Behindertenrechte,
  • Aussterben der Deutschen und „Umvolkung“

emotionalisieren und in verschiedene gesellschaftliche Gruppen / Schichten unterschiedlich ausstrahlen. Man kann prima mit verkürzten (Falsch)Aussagen Stimmungen auslösen. Beatrix von Storch (AfD-Bundestagsabgeordnete) hat genau gewusst, was ihre Schlagzeilen „Brosius-Gersdorf ist für die straffreie Abtreibung bis zum 9. Schwangerschaftsmonat“ oder „Die Kandidatin für das BVerG spricht einem neun Monate alten Fötus keine Menschenwürde zu.“ bewirken werden, wenn sie erst in der „Bild-Zeitung“ oder anderen Medien auftauchen. Warum ist von Storch und anderen das offensichtlich zum jetzigen Zeitpunkt so wichtig? Wenn 75 % der Deutschen für die Abschaffung der Rechtswidrigkeit von Abtreibungen und damit für die Entkriminalisierung sind, was Umfragen immer wieder zeigen. Und wenn dann noch eine solche „Aktivistin“ ins Verfassungsgericht käme, würden die Felle für die Umsetzung ideologisch besetzter Forderungen der Rechten und Rechtsextremen wegschwimmen. Eine vermeintlich letzter Hürde würde kippen. Die Reißleine muss, so zeigt die Heftigkeit der Kampagne, kompromisslos gezogen werden.

Die aufgezeigten, falschen Schlussfolgerungen und damit impliziten Abwertungen des BVerG sind offensichtlich den CDU-/CSU-Abgeordneten ebenfalls nicht fremd. Sie haben bei ihnen verfangen und die Richterwahl unmöglich gemacht.

Wir haben vor kurzem in unserer Stadt erlebt, mit welchen Anfeindungen gegen den Wunsch nach Vielfalt und freier Lebensgestaltung in Pirna agitiert wird. Wenn mit zweifelhaften Argumenten im Kampagnenstil darauf hingearbeitet wird, dass ein CSD 2026 nicht mehr in Pirnas Mauern stattfinden soll, dann würden grundgesetzlich verbürgte Rechte beschnitten. Ist es wirklich nicht zu ertragen, dass an einem von 365 Tagen im Jahr in Pirna ein Vielfaltsfest gestaltet werden kann, zu dem jede/r eingeladen ist (s. auch „Kulturkampf – eine Nachbetrachtung“) ?

Schwangerschaftsabbruch und Verfassungsrecht.

Die Unterbrechung einer Schwangerschaft zwischen der Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutterschleimhaut und der Geburt ist ein einziges, kaum zu ertragendes Dilemma aus menschlicher, ethischer, medizinischer und juristischer Sicht.

Das BVerG hat in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1993 den Schutz des Lebens und der Menschenwürde eines Embryos / Fötus in den Vordergrund gestellt. Bei der Abwägung des Lebensrechts von ungeborenem Kind und Mutter hat es mit Hinweis auf Art. 1, 1 in Verbindung mit Art. 2, 2.1 GG zugunsten des Kindes entschieden. Und damit grundgesetzlich ein Paradoxon konstruiert, weil ja eigentlich Leben nicht Leben weichen darf / muss. Der Bundestag hat 1995 (Regierung aus CDU/CSU und FDP) aus dieser Rechtsprechung des BVerG die Strafrechtsparagraphen 218 und 218 a bzw. 218 b (2022 zu Ampelzeiten abgeschafft) beschlossen, die zu der Rechtswidrigkeit des Abbruchs eine Straffreiheit für Mutter und behandelnde Ärzt*in bis zur 12. Schwangerschaftswoche stellen. Straffreiheit wird gewährt, wenn eine präventive Pflichtberatung („Beratung zum Leben“), eine 3-tägige Bedenkzeit und ein ordnungsgemäßer, ärztlicher Eingriff erfolgen. Die gesetzliche KV erstattet die Kosten wegen der Rechtswidrigkeit grundsätzlich nicht. Ausnahmen davon bestehen bei einer medizinischen (Gefährdung der Gesundheit der Schwangeren) oder einer kriminologischen (z. B. Schwangerschaft aufgrund einer Vergewaltigung) Indikation. Die Phase vor der Einnistung der befruchteten Eizelle unterliegt nicht dem Lebensschutz und der Rechtswidrigkeit im Hinblick auf eine Unterbrechung, ansonsten wäre die „Pille danach“ strafbar.

Andere Regelungen gelten für einen Abbruch zwischen der 13. Woche und kurz vor der Geburt. Ist für die werdende Mutter eine medizinische Indikation gegeben, so dass sie durch die Fortsetzung der Schwangerschaft und Geburt gefährdet ist, dann ist die Rechtswidrigkeit des Abbruchs aufgehoben. Die Auflage der psychosozialen Beratung entfällt damit, und die Kosten werden von der KV übernommen. Unter medizinischer Indikation in dieser Phase werden sowohl organische oder psychische Leiden der Frau als auch diagnostizierte organische oder genetische Defekte des Embryos / Fötus zusammengefasst, weil angenommen wird, dass eine Behinderung des sich entwickelnden Kindes die Schwangere unzumutbar belastet.

Seit dem BVerG-Urteil aus 1993 und den gesetzlichen Regelungen des Parlaments aus 1995 zum Schwangerschaftsabbruch hat sich Neues ergeben:

  • die Zahl der von Frauen gewünschten Abbrüche bleibt zwar über die Jahre konstant; aber aufgrund der Verbotswirkung des BVerG-Urteils in Verbindung mit § 218 ist die Versorgungslage für Schwangere in Not erheblich schlechter geworden,
  • die Zahl der ärztlichen Stellen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen können/wollen, hat sich innerhalb von 18 Jahren halbiert,
  • „Ächtung und Stigmatisierung wirken sich negativ auf die reproduktive Gesundheit und Selbstbestimmung von ungewollt schwangeren Frauen aus“ (humanismus aktuell, Juni 2023),
  • Fortschritte in der pränatalen Diagnostik bewirken, dass immer mehr und immer später im Verlauf der Schwangerschaft Hinweise auf eine Fehlentwicklung des Fötus entdeckt werden,
  • die Probleme bei den Abwägungen zum Schutz eines Lebens in Würde werden mit dem erweiterten Kenntnisstand immer größer und die Hilfestellungen werden immer geringer angeboten,
  • die Konflikte um die Frage, ein möglicherweise behindertes Kind in diese Welt der Perfekten, Funktionierenden, Nützlichen zu gebären, werden schier unauflösbar.

Frau Brosius-Gersdorf ist am 31.03.2023 zusammen mit 17 Professor*innen zum Mitglied der „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ vom Bundestag berufen worden; sie soll(t)en die „Möglichkeiten der Regulierung für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuchs“ prüfen. Nach einem Jahr hat die Kommission ihre Ergebnisse dem Bundestag, auch der CDU/CSU-Fraktion, präsentiert. Im Gespräch mit Markus Lanz hat sie ihre Überlegungen aus der Kommissionsarbeit erläutert (ZDF, 15.07.2025, Minuten 42.30 bis 57.30, zuletzt aufgerufen 31.07.25, 22 h). Ihre juristische Argumentation, wie sie aus dem oben skizzierten Dilemma nach dem BVerG-Urteil von 1993 herauskommen möchte, ist kurz gefasst folgende (s. auch Abbildung):

  • die Grundrechte des Embryos / Fötus und der Frau müssten gegenseitig abwägungsfähig werden,
  • d. h., in der Frühphase der Schwangerschaft wäre die Würde der Frau mit ihrem Selbstbestimmungsrecht höher zu gewichten,
  • mit der fortschreitenden Entwicklung des Embryos / Fötus müsste der Lebensschutz einen immer höheren Stellenwert in der Abwägung erhalten,
  • daraus folgt, dass die Rechtswidrigkeit eines möglichen Abbruchs in der Frühphase der Schwangerschaft entfallen könnte,
  • die Auflagen mit einer präventiven Beratung sowie die Wartetage könnten folgerichtig ebenso aufgegeben werden,
  • während die Rechtswidrigkeit eines Abbruchs nach der 12. Woche gegeben wäre und nur durch eine Indikation straffrei gestaltet werden könnte.

     2. Politischer Kommentar:

  • Über die Auswirkungen des BVerG-Urteils und die Aktualität der Bestimmungen des § 218 muss es nach dem Kommissionsbericht eine breite, gesellschaftliche Diskussion geben.
  • Unterstützungssysteme für Frauen und besonders für Schwangere in Not müssen dringend erweitert und geldlich ausgestattet werden.
  • Die Anschuldigungen aus der Kampagne gegenüber Frau Professorin Dr. Frauke Brosius-Gersdorf entpuppen sich in allen Punkten der Vorwürfe als völlig haltlos. Frau von Storch (AfD) und ihre Helfershelfer*innen haben offensichtlich gelogen.
  • Dass CDU/CSU-Abgeordnete so wenig Hintergrundwissen und Unterstützung in der Argumentation vonseiten ihrer Fraktionsführung haben, wenn sie sich auf eine so wichtige Abstimmung für ein Verfassungsorgan vorbereiten, muss der Partei sehr zu denken geben und muss geändert werden.
  • Es darf nicht sein, dass Vertreter*innen einer (ehemaligen) Volkspartei sich einer solchen Kampagne aus dem Netz derartig hilflos sowie schutzlos ausgesetzt fühlen und dann panikartig reagieren.
  • Unerklärlich und fast schon politischer Selbstmord für die Union und ihre Fraktion im Bundestag ist, dass der beschlossene Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD (bereit für den Download, hier als Auszug von Seite 102 abgebildet) die Überlegungen von Frau Brosius-Gersdorf schon vorweggenommen hat. Schlimm ist, dass Abgeordnete und Partei-Justiziare dies nicht durchdacht haben bzw. nicht wissen. Denn eine „Kostenübernahme durch die gesetzliche KV über die heutigen Regelungen hinaus“ in den ersten 12 Wochen kann es nur geben, wenn die Rechtswidrigkeit des Abbruchs beseitigt ist.
  • Die vor allem an die katholische Kirche gerichteten, mahnenden Worte des Ex-Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD) sollten dringend beachtet werden: „Inzwischen können offenbar auch bei uns fundamentalistische Pressure Groups eine Meinungsmaschine mobilisieren und damit Abgeordnete beeinflussen. Ich sehe mit Beunruhigung, dass die Grenzen zwischen seriösen Anliegen meiner Kirche und agitationsfreudigen rechten Aktivisten aufweichen. … Auch hierzulande ist der Rechtskatholizismus anfällig für die Gefahr eines populistischen Moments.“ (ZEIT, 31, 24.07.2025)
  • Der Bamberger Erzbischof H. Gössl, der in einer seiner Predigten Brosius-Gersdorf mit dem Vorwurf „Abgrund der Intoleranz und Menschenverachtung“ konfrontiert hatte, ist mit sehr gutem Beispiel vorangegangen und hat sich in einem Telefonat bei der Kandidatin für den Richterposten entschuldigt. Hut ab!!
  • Dem sollte die CDU/CSU-Fraktionsführung für die Abgeordneten im Bundestag folgen, sich bei Frau Brosius-Gersdorf entschuldigen und sich mit entsprechenden Veröffentlichungen vor sie stellen.
  • Von allen demokratischen Fraktionen im Bundestag ist eine überzeugende Argumentation für die Umsetzung des ursprünglichen Wahlvorschlags zu entwickeln, damit das Richterkollegium am BVerG möglichst schnell die erforderliche Unterstützung erhält. Es ist alles dafür zu tun, dass das BVerG keinen Schaden aus diesem Vorgang erleidet.

 

Was das alles nun wiederum für das politische Leben in Pirna bedeutet, möchte ich gern / möchten wir Grünen gern mit Ihnen offen diskutieren. Kommen Sie demnächst zum „Grünen Tee im Grünen Laden“, Schloßstr. 4 in Pirna. Herzlich willkommen.

 

Dieter Wiebusch