Seltsam 8. August 202413. August 2024 Die Rathausfassade in Pirna erstrahlt auch nachts zur Freude von Einheimischen und Touristen. Im Haus selbst passieren jedoch seltsame Dinge. Damit ist nicht die Amtsauffassung der Mitarbeiter der Verwaltung gemeint, sondern die der Hausspitze. Das Pirnaer Amtsblatt als Flöte des OB Im Pirnaer Anzeiger Nr. 14 wurde eine neue Rubrik angekündigt: „Themen des Oberbürgermeisters“. Und sogleich verwirklicht. Auf zwei Seiten wurde ein Interview mit dem OB abgedruckt. Der Interviewer war nicht etwa ein ausgebildeter Journalist, der hätte ja unbequeme Fragen stellen können. Das liebt der OB gar nicht. Nein, es war sein engster Vertrauter im Rathaus, Timo Backofen. Die beiden waren sich einig darin, dass die Wahlentscheidung „ausnahmsweise mal nicht von bestimmten Medien gelenkt“ war, dass Pirna (?) nicht länger an der „Pathologisierung des Normalen“ (Bolz) mitwirken würde und dass vieles, was der OB vertritt „noch bis vor ca. 10 Jahren Grundkonsens der sog. Volksparteien gewesen ist.“ (Pirnaer Anzeiger, 14/2024). Angeblich von den Medien gelenkte Wahlentscheidungen und die Rede von den sogenannten Volksparteien, das sind AfD-Positionen und AfD-Vokabular. Das soll jetzt in Pirna normal werden. Wir weisen das ausdrücklich zurück. Ein Amtsblatt ist nicht das Organ einer Partei. Das Amtsblatt Nr. 15 Im Amtsblatt Nr. 15 werden die neuen Töne noch deutlicher. Hier erscheint der Artikel „Schulen sind Bildungsstätten“. Das hat bestimmt noch niemand in Pirna gewusst. Es ist von Unterrichtsinhalten die Rede, die nicht zum Lehrplan gehören würden, von Schülern die aufgefallen sein sollen „durch ein politisch-motiviert provokantes Auftreten gegenüber Mitschülern“, von Einschüchterung und Agitation (Pirnaer Anzeiger, 15/2024). Es gibt keinerlei Belege für all diese Behauptungen. Belegt ist nur die Tatsache (und das wird am Ende des Artikels auch erwähnt), dass die Schülerinnen und Schüler des Schillergymnasiums zum Schulfest am Schulhaus einige Regenbogenfahnen aufgehängt hatten. Außerdem stand da gut sichtbar „Keine Toleranz für intolerante Menschen“ und „Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit“. Das hat dem OB offensichtlich gar nicht gefallen. Und da Schülerinnen und Schüler in seinem Weltbild keine eigene Meinung haben, müssen sie wohl indoktriniert worden sein. Vom Kopf auf die Füße Um die Unterstellung wissenschaftlich zu unterfüttern, wird im Artikel auf den Beutelsbacher Konsens verwiesen. Stellen wir das „Überwältigungsverbot“ aus dem „Beutelsbacher Konsens“ vom Kopf auf die Füße: Er schreibt keinesfalls fest, dass Lehrer*innen „neutral“ sein müssen. „Lehrerinnen und Lehrer jeder Schulform und aller Schulfächer sollten sich bewusst sein, dass sie einen klaren Auftrag zur Demokratiebildung haben. Das Erfordernis der Überparteilichkeit ist nicht zu verwechseln mit einer politischen Neutralität beziehungsweise einer Wertneutralität.“ (Qualitätsoffensive Lehrerbildung). Lehrer*innen dürfen nicht neutral sein. Sie sind durch Schulgesetz und Verfassung verpflichtet, für Menschenrechte und Demokratie einzustehen. Sie haben die Pflicht, ihren Unterricht multiperspektivisch zu gestalten und Schülerinnen und Schüler zur eigenen politischen Urteilsfähigkeit zu befähigen. Und da wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben, werden diese Urteile sehr verschieden ausfallen. Noch nie hat sich Tim Lochner jedoch zu Wort gemeldet, wenn in Schulen Sticker abgerissen werden, auf denen „Schule ohne Rassismus. Schule mit Courage“ steht, oder Schüler von Mitschülern drangsaliert werden, wenn sie keine AfD-nahen Meinungen vertreten. Fazit Lehrerinnen und Lehrern ist ihre Aufgabe bewusst. Sie benötigen keine Nachhilfe aus dem Rathaus. Zumal es dem Verwaltungschef nicht um Neutralität, sondern um Einflussnahme geht. Das ist Amtsanmaßung. Die Verwaltung ist für die sächliche Ausstattung der Schulen zuständig, nicht für die fachliche und pädagogische. Es wäre schön, wenn sich der OB um seine eigentlichen Aufgaben kümmern würde. Seltsam ist diese Amtsauffassung, „weird“ würde man in den USA neuerdings sagen. Und wir Leserinnen und Leser fragen uns, ob bei diesen Flötentönen aus dem Amtsblatt (man könnte sie auch Indoktrination nennen) eigentlich Leserbriefe erlaubt sind. Oder ob nur Gefälligkeitsinterviews, die neue Form von Loyalität im Rathaus, gedruckt werden dürfen und Gegenrede mal wieder nicht erwünscht ist. Dr. Bärbel Falke