Wie weiter? 3. Mai 2020 „Wer heute über die Zukunft spricht, tut dies aufgrund zweier stark divergierender Annahmen: Wir lebten vor Ausbruch der Pandemie entweder in einer funktionierenden, zufriedenstellen Normalität oder in zerrütteten Verhältnissen. Von dieser grundsätzlichen Haltung hängt die Reaktion auf die brüchige Gegenwart ab. Entweder erwarten wir das Schlimmste oder wir schöpfen neue Hoffnung. Selten waren Dystopie und Utopie so nahe beieinander, genau gesagt 1,5 Meter voneinander entfernt.“[1] Ein kleiner Akt zivilen Ungehorsams Gestern erlaubten wir uns einen kleinen Akt des zivilen Ungehorsams. Eine Freundin hatte Geburtstag und wir trafen uns in ihrem Garten, mehr als nur eine Person, die nicht zur Familie gehörte. Immerhin saßen wir 1,5 Meter voneinander entfernt, allerdings ohne Masken. Die wären bei dem leckeren Essen auch eher hinderlich gewesen. Heiter, fast ausgelassen und glücklich, der Isolation für ein paar Stunden entronnen zu sein, gab es dennoch fast nur ein Gesprächsthema. Und obwohl politisch durchaus nicht immer einer Meinung, waren wir uns schnell einig: Es waren mehr oder wenige zerrüttete, kranke Verhältnisse, die uns alle in diese Situation gebracht hatten. Und mir war es, als erlebte ich ein Déjà-vu aus DDR-Zeiten. Was ist es doch heimelig und gemütlich, gemeinsam zu schimpfen, genau zu wissen und im Freundeskreis auszusprechen, was alles schiefläuft und wer alles Fehler macht. Es sich dabei gut gehen zu lassen, und dann zufrieden auseinander zu gehen. Nun, ganz so seicht ist es dann doch nicht gelaufen. Und es liegt mir fern, unseren gemütlichen Nachmittag im Nachhinein abzuwerten. Aber gesellschaftlich gesehen ist festzustellen, dass uns das jetzt allerorten eingesetzte Gemaule und Geschimpfe nicht weiterbringen wird. Ausgehend von einem Versuch der Analyse unserer Verhältnisse und meiner Haltung werfe ich die Frage auf: „Wie weiter?“ Die Antwort ist sehr subjektiv und eine Einladung zur Diskussion. Wie kennzeichnet unsere Normalität bis heute? Unser Wohlstand basiert auf einer noch nie dagewesenen Ausbeutung von Natur und Mensch. Oder glaubt jemand, dass eine Jeans für 3,- € ein fairer Preis ist, den nicht ein anderer bezahlen muss? Eine epidemiologische Grundregel besagt: „In jedem biologischen System, das unter Stress gerät, nimmt die Virenaktivität zu. Wir können heute zum Beispiel die Stressbelastung eines Menschen messen, indem wir die Virenaktivität im Speichel messen“.[2] Wie sieht die Stressbelastung in unserer Gesellschaft aus? Wie geht es Menschen, die sich in prekären Verhältnissen befinden, Menschen, die extreme Ungleichheit erleben, sich ständig an der Belastungsgrenze bewegen, um ihre Zukunft fürchten? Nicht umsonst boomen zurzeit Bücher zur Resilienz, finden Kongresse und Tagungen statt, wie z. B. der für September 2020 geplante 40. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie mit dem zentralen Thema „Gesellschaft unter Spannung“ [3] Biologische Systeme unter Stress sind aber auch gewachsene komplexe Ökosysteme, in die der Mensch gewaltsam eindringt. Natur und Tierwelt geraten unter Stress, Viren werden frei und zu menschlichen Pathogenen. Ein Beispiel: „Als belgische Kolonialherren im Kongo Eisenbahnen bauten und Städte in den Urwald hineintrieben, haben sich die in den dort lebenden Affen (Makaken) sesshaften Lentiviren langsam an den Menschen angepasst. Daraus entstanden später die Erreger der AIDS-Erkrankung, die HI-Viren.“[4] Der Virus der heutigen Corona – Pandemie nahm seinen Ausgangspunkt auf einem Markt in Wuhan, wo mit Wildtieren gehandelt wird. Wer sich die Bilder der in engste Käfige eingesperrten Wildtiere angeschaut und in ihre angststarren Augen geschaut hat, entwickelt eine annähernde Vorstellung vom Stress dieser armen Kreaturen. Wir brauchen aber gar nicht ins ferne Wuhan gehen. Es genügt ein Blick in die Massenställe in Deutschland, wo Muttersauen in so engen Käfigen gehalten werden, dass sie nicht einmal mehr aufstehen können, ihren männlichen Ferkeln die Hoden ohne Betäubung herausgerissen werden, von der Misshandlung von Kälbern, Puten und Hühnern ganz zu schweigen. Und bei uns Menschen? Gesundheitssysteme werden nach profitorientierten Kriterien umgebaut, sie müssen sich rechnen. Menschen im permanenten Stress mit schweren psychosomatischen Störungen finden nur schwer professionelle Hilfe. Wer keine Arbeit hat, wird permanent kontrolliert, steht unter dem Generalverdacht der Faulheit auf Kosten der anderen. Als wäre Arbeit für alle da. Wer arbeitet, befindet sich oft in einem immer schnelleren Hamsterrad, Stress pur. Der freie Markt soll alle Probleme regeln, schafft es aber noch nicht einmal, Masken in ausreichender Zahl zu produzieren. Der Staat soll sich aus wirtschaftlichen Entscheidungen heraushalten, wird aber in immer kürzeren Abständen gerufen, um zu retten. Mit fast unerträglicher Arroganz schauen wir auf die anderen Länder. Was die alles falsch machen und wie toll wir doch selbst sind. Und selbst der Ministerpräsident von Sachsen ist sich nicht zu schade, den Deutschen an sich zu loben, wie er doch famos alle Probleme angeht und löst.[5] Die C-Krise „Kaum war die Epidemie zur Pandemie ausgewachsen, wurden weltweit dirigistische Instrumente eingesetzt, die öffentliche Hand war gefordert, die Konzerne verkrochen sich (oder versuchten sich à la Adidas mit erhöhter Asozialität durchzumogeln). Allerorten wurden staatliche Unterstützung oder Verstaatlichung gefordert. Was einen doch sehr erstaunen muss, waren doch diese Instrumente zuvor allesamt als ineffektiv und schädlich abgetan worden.“[6] Es wurden nicht nur Grundrechte im Schnellverfahren abgeräumt (immerhin mit Zustimmung der Parlamente), sondern auch neoliberale Prinzipien über Nacht über Bord geworfen: das ungebremste Wirtschaftswachstum, der ungeregelte Markt und die Freiwilligkeit (bei Produktion und Konsum).[7] Ich halte das für eine ganz erstaunliche Entwicklung, die sowohl die Chance, eine andere Welt zu bauen, beinhaltet als auch das Risiko einer schnellen Rückkehr zum alten Stresslevel, das immerhin das Wohlstandsversprechen für einen (sich stetig verringernden) Teil der Bevölkerungbeinhaltet. Während sich in den ersten Wochen des Stillstands des gesellschaftlichen Lebens fast alle Menschen dreinschickten in die offensichtlich unvermeidbaren Maßnahmen, ungläubig, angstvoll, kritisch, verächtlich oder voller Achtung auf die Berichte der Virologen starrend, hat sich die Situation inzwischen geändert. Reaktionen Inzwischen gibt es laute Stimmen, die zum Widerstand gegen die Maßnahmen der Regierungen und die vorsichtigen Lockerungen aufrufen. Sie berufen sich auf das Grundgesetz. Im Artikel 20 Abs. 4 des Grundgesetzes wird ein Recht auf Widerstand formuliert gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen. Es lohnt sich, diese Strömungen etwas differenzierter zu betrachten. Die AfD z. B. und das rechtsextreme Netzwerk „Ein Prozent“, das sich selbst „Deutschlands größtes patriotisches Bürgernetzwerk“ nennt, träumen von einer Wende für Deutschland. Sie demonstrieren für das Wiederherstellen der Bürgerrechte, rufen „Wir sind das Volk“ und suggerieren den Kampf für die Freiheit. Vor der Pandemie sind diese Kreise eher durch martialisches Auftreten aufgefallen, durch Sicherheitsdienste und „Bürgerwehren“. Wenn wir von den beiden divergierenden Annahmen vor der Pandemie ausgehen, so war die Normalität vor der Krise für rechte Kreise nicht zufriedenstellend. Freiheit soll es nur für Deutsche geben, die Grenzen gehören kontrolliert, der Euro abgeschafft, es braucht einen „sicherheitspolitischen Befreiungsschlag“[8] und die „generelle Betonung der Individualität untergrabe[…] die Familie als wertgebende gesellschaftliche Grundeinheit.“[9] Eine wirklich freie Gesellschaft sieht anders aus. Aber das Wohlstandversprechen soll aus rechter Sicht weiter gelten, nicht für alle selbstverständlich, und es ist völlig egal, welchen Preis andere dafür zahlen müssen. Es ist die deutsche Variante des „America First.“ Es ist Misstrauen angesagt gegenüber Parteien und Bewegungen, deren Grundausrichtung zutiefst nationalistisch ist, die Waffenbesitz legalisieren und Frauen bevormunden wollen, die gegen den sich angeblich mästenden Staat schimpfen und ihn dann rufen, wenn es eng wird. Es gibt aber auch die Menschen, denen rechtes Gedankengut fern ist, die sich durch die rigiden staatlichen Eingriffe jedoch ähnlich gemaßregelt fühlen wie vor 1989. Sie berufen sich auf die Studien, die sich regelmäßig widersprechen, bemängeln zu Recht die vielen Ungenauigkeiten der Tests und Erhebungen (wissenschaftliche Forschung kennt allerdings keine abschließenden, statischen Erkenntnisse!) und sehen die Datensammelwut als Vorbote eines autoritären Staates. Eines Staates, dessen oberstes Gebot die Gesunderhaltung seiner Bürger/innen ist, der beobachtet, eine bestimmte Lebensweise vorschreibt, Zuwiderhandlungen bestraft. Das wäre das Gegenteil von Freiheit. Ich halte die beschriebene Gefahr für nicht besonders groß und unsere Demokratie immer noch für ziemlich robust. Allerdings ist das Gespenst der Datenkrake und des „Big Brother“ auch nicht unbegründet. Die anderen Gefahren, die sich mit einem „Weiter so“ nach der Krise verbinden, sind aus meiner Sicht jedoch wesentlich größer. Wenn wir von den oben skizzierten Annahmen ausgehen, so kann der Zustand vor der Pandemie nicht als „funktionierende, zufriedenstellende Normalität“ angesehen werden. Es sind krank machende, unwürdige, den Planeten umbringende Verhältnisse. Ein Paradigmenwechsel ist notwendig. Hier sollten wir all unsere Kraft und unseren Verstand investieren, was eine kritische Begleitung der angeordneten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie einschließt. Paradigmenwechsel Dieser Wechsel betrifft Die Art des Wirtschaftens: Staatliche Zuwendungen und Subventionen müssen an klimafreundliche und arbeitsrechtliche Maßnahmen gebunden sein. Die Frage der Systemrelevanz: Die Krise hat deutlich vor Augen geführt, wer das Gemeinwesen in schweren Zeiten trägt und am Laufen hält. Berufe, die der Aufrechterhaltung der Grundbedürfnisse der Menschen der Gesellschaft dienen (Pflegekräfte, Krankenschwestern, Postbot*innen, Verkäufer*innen, Polizist*innen, Müllentsorger*innen, etc.) müssen besser bezahlt und nicht nur mit warmen Dankesgrüßen versehen werden. Die Befreiung vom Diktat des ewigen Wachsens: Auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen ist ein unendliches Wachstum nicht möglich. Die Reform des Strafrechts: Tiere dürfen nicht länger als Sache betrachtet werden. Den Einstieg in einen globalen Lastenausgleich: Krisen sind nicht mehr lokalisierbar. Die Hilfe für andere Länder bedeutet Selbsthilfe. Die Entprivatisierung des Gesundheitssystems und eine Entkoppelung der Entwicklung von Medikamenten von den Interessen der Pharmaindustrie und deren Herstellung in anderen Ländern. Die Reform des Bildungssystems mit dem Ziel längeren gemeinsamen Lernens. Das frühzeitige Aussortieren von Kindern bedeutet ebenfalls Stress, sein Nutzen wurde nie wirklich bewiesen. Es stabilisiert die Ungleichheit der Gesellschaft. Große Ungleichheit wiederum, das zeigt die Glücksforschung, wirkt sich negativ auf das Glücksempfinden, die Zufriedenheit und Gesundheit einer Gesellschaft aus. Wie also weiter? Lasst uns die Isolation überwinden, wieder zusammenfinden und Pläne schmieden. Lasst uns konkrete Projekte planen, durchführen und evaluieren, die unsere Stadt grüner und lebenswerter machen. (Vorschläge findet ihr im Papier „Wie weiter im Grünen Stadtverband in Pirna?“). Lasst uns eine Sprache finden und laut werden gegen die weitere kulturelle und sprachliche Verwahrlosung, ungebremsten Autoverkehr, Massentierhaltung, Bodenversiegelung und für eine am Gemeinwohl orientierte, nachhaltige Wirtschaft, für eine gerechte Entlohnung aller Berufsgruppen, die in sozialen Diensten tätig sind, für Chancengleichheit, Würde des Menschen unabhängig seiner Herkunft, Religion, seines Alters und Geschlechts. [10] Ein Text von Bärbel Falke Sprecherin des Stadtverbandes Bündnis 90/ Die Grünen Pirna ___ [1] Ilja Trojanow: Virus frisst Ideologie. In: taz vom 29.04.2020, S. 12 [2] https://www.anthroposophische-meditation.de/fileadmin/media/Coronakrise/Corona-Syndrom_Dr.-Thomas-Hardtmuth.pdf [3] https://kongress2020.soziologie.de/fileadmin/kongress/Themenpapier_DGS-Kongress_2020_final.pdf [4] T. Hardtmuth, a. a. O. [5] https://www.tag24.de/dresden/umstrittene-aeusserungen-bei-anne-will-kretschmer-gibt-den-patriotischen-corona-hardliner-149273 [6] I. Trojanow a. a. O [7] Vgl. ebenda [8] Grundsatzprogramm der AfD, S. 47 [9] Ebenda, S.80 [10]Vgl. https://cms.gruene.de/uploads/documents/20190328_Zwischenbericht_Gruenes_Grundsatzprogramm.pdf