AKW – nee!

Versuch des Rollbacks im Umwelt- und Klimaschutz sowie bei erneuerbaren Energien

M. Kretschmer, MP im Freistaat Sachsen, hat unlängst zu Protokoll gegeben, dass Deutschland eine neue Energiewende brauche, indem AKWs erneut sowie länger ans Netz angeschlossen und Braunkohlekraftwerke nicht abgeschaltet werden. Kretschmer forderte, „die Bundesregierung müsse jetzt schnell und zügig die Weichen stellen, um jungen Leuten da auch eine Idee zu geben, in welche Berufe sie gehen, wo sie mitwirken können, und Investoren eine Richtung, wo es sich lohnt zu investieren“ (ZEIT, 14.08.22).

Rückwärts gewandter kann man sich trotz besseren Wissens (M. K. war Bundestagsabgeordneter von 2002 bis 2017) nicht ins Zeug zu legen versuchen. Und dreister kann man eine Notlage (Gasknappheit und Teuerungswelle aufgrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine) nicht für seine Ideologie (Freiheit durch die angeblich unerschöpfliche Atomspaltung; was kümmern mich Umwelt- und Klimaschutz, die Wirtschaft muss brummen) sowie parteipolitische Spielchen instrumentalisieren. Leider ist er in dieser Bewegung nicht der einzige aus der CDU – FDP und AfD ziehen im Geleitzug immer mit.

Junge Menschen und Investoren hatten seit 2002 eine Perspektive, aber …

sie ist systematisch durch CDU geführte Bundes- und Landesregierungen in Duett mit FDP bzw. SPD bis 2021 zerstört worden, obwohl die Grenzen des Wachstums und eine mögliche Klimakatastrophe durch Treibhausgas-Emissionen schon seit langem wissenschaftlich belegt waren / sind.

Im April 2002 veränderte der Bundestag auf Antrag von SPD und Bündnis 90 / Die Grünen (Rot / Grün, 1998-2005) nach vielen wissenschaftlichen Expertisen zu Störfällen in deutschen AKWs, nuklearen Katastrophen in Harrisburg (USA, März 1979) und Tschernobyl (SU, April 1986) sowie andauernden gesellschaftlichen Debatten das bestehende Atomgesetz, um die gewerbliche Erzeugung von Strom aus der Spaltung von Uran-Kernen geordnet zu beenden:

  • Begrenzung der Laufzeiten bestehender AKWs auf ca. 32 Jahre,
  • Kontingentierung der Elektrizitätsmengen für einzelne AKWs
  • feste Abschalttermine für alle AKWs
  • Verbot neuer AKWs
  • unmittelbare Konsequenz: Abschaltung AKW Stade Nov. 2003, AKW Obrigheim Mai 2005

Schon im Jahr 2000 war im Gegenzug das in der Welt als beispielhaft bewertete Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) erlassen worden, das zum Aufbau von Alternativen zur Atom- und fossilen Energie-Gewinnung beitragen soll. Zu diesem Zeitpunkt existierten bereits 105.000 zukunftsfähige Arbeitsplätze in allen erneuerbaren Energiebranchen Deutschlands, die bis 2011 auf 415.000 Jobs expandierten – eine beispielhafte Erfolgsgeschichte, auch in Sachsen.

CDU und FDP pushen ab 2010 wieder die Atomenergie

Die CDU / FDP-Bundesregierung nutzte die Tatsache, dass der Anti-AKW-Konsens nicht tief gesamtgesellschaftlich verankert war (Parallele zu heute – wie kommt das wohl und was bedeutet das?), und legte 2010 eine Änderung des Atomgesetzes vor, dem der Bundestag im Dezember 2010 zustimmte:

  • Verlängerung der AKW-Laufzeiten
  • Erhöhung der Elektrizitätsmengen aus Atomenergie

Die AKW-Betreiber jubelten, allerdings nur für 3 Monate (s. u.).

Zusammen mit CDU-Umweltminister Röttgen legte FDP-Wirtschaftsminister Rösler gleichzeitig dem EEG die Daumenschrauben an und sorgte durch die Kürzung der Fördergelder für den Zusammenbruch der Erneuerbare-Energien-Branche. Bis 2019 verlor diese 100.000 Arbeitsplätze, Rotorenbau erlahmte und die zukunftsfähige PV-Herstellung, auch aus Sachsen, wanderte nach China ab, während der Aderlass z. B. im Braunkohlebergbau deutlich geringer ausfiel (23.000 Jobs in 2011 auf 18.000 Jobs in 2021). Diese Firmen und Handwerkerleistungen sowie die Expertise für Zukunftstechnologien fehlen uns heute, um die Energiewende voran zu treiben.

Kehrtwendung mit dem erneut veränderten Atomgesetz ab 11. März 2011

Ein Erdbeben mit nachfolgendem Tsunami stürzte Bewohner*innen und Umgebung am AKW Fukushima (Japan) in die immer schon befürchtete, weil wahrscheinliche Nuklearkatastrophe. Atomenergie ist nun auch für CDU und FDP eine Hochrisiko-Technologie, die innerhalb von 3 Tagen zu „beerdigen“ war:

  • Die CDU / FDP-Bundesregierung legt das sofortige Herunterfahren von sieben AKWs fest (14.03.2011).
  • Die CDU / FDP-Bundesregierung setzt eine Ethik-Kommission ein, die das endgültige Aus für die Atomenergie-Nutzung innerhalb eines Jahrzehnts ermittelt.
  • Der Bundestag beschließt am 30. Juni, der Bundesrat am 8. Juli 2011 das neue Atomgesetz jeweils mit breiter Mehrheit.
  • Am 6. August 2011 tritt das Atomgesetz in der noch heute gültigen Form in Kraft und bestimmt die Laufzeitbegrenzung, die reduzierten Elektrizitätsmengen und die Abschaltung aller AKWs spätestens am 31.12.2022.

Fehlentscheidungen blockieren die notwendige Energiewende

CDU und FDP (Ausstieg aus dem Ausstieg sowie erneuter Ausstieg) sowie SPD in den Bundes- / Landesregierungen

  • haben den Steuerzahler Milliarden an Entschädigungszahlungen an die AKW-Betreiber gekostet, die der Energiewende fehlen.
  • haben gleichzeitig Entschädigungszahlungen in Milliarden Höhe bis heute an Windkraftbetreiber mit ihrem billiger und umweltfreundlicher produzierten Strom bewirkt, weil sie gezwungen werden, ihre Anlagen abzuschalten, wenn noch laufende AKWs mit ihrer Grundlast die Netze blockieren.
  • haben zu Abstandsregelungen (1000 Meter bzw. 10 H) und damit zum Aus für neue Windkraftanlagen an Land bzw. beim Repowering beigetragen.
  • haben die Reduktion der festen Einspeisevergütungen für PV-Anlagen (von 50,6 Cent / kWh [Neuanschluss 2001] auf 6,3 Cent / kWh [Neuanschluss Juli 2022]), die Beschränkung der Einspeisung bei 70% der PV-Leistung bewirkt, nur um innovative Bürger*innen wirtschaftlich einzuschränken und erneuerbaren Strom aus dem Markt zu halten.
  • haben den Freistaat Sachsen bei den Erneuerbaren im Vergleich der Bundesländer auf einen hinteren Platz gebracht.
  • sorgen für zweifelhafte Allianzen führender Politiker*innen: noch (oder schon) im NRW-Wahlkampf 2012 hat Christian Lindner (als FDP-Vorsitzender in NRW) an der Seite von RWE-Aufsichtsrat Wolfgang Clement (Ex-SPD-Ministerpräsident in NRW und Ex-Bundeswirtschaftsminister) für Kohlekraftwerke geworben und sich über „grotesk hohe Subventionen“ für erneuerbare Energien entrüstet. Fast gleichlautende Botschaften sind von Lindner auch heute zu hören – Überzeugungen bzw. Ideologie, natürlich.

Zwischenfazit, Herr Kretschmer:

Die Energiewende muss nicht erneuert, sondern sie muss nach dem von Ihnen initiierten und zu verantwortenden Abgesang ab 2010 erst wieder ermöglicht werden. Und dazu benötigen wir dringend geschickte junge Hände und kluge junge Köpfe.

Was spricht noch gegen den Weiterbetrieb von AKWs?

fehlender Entsorgungsnachweis für den laufenden Betrieb

Alle dt. AKWs konnten lt. Rechtsprechung nur deshalb genehmigt und in Betrieb genommen werden, weil sie bisher zumindest auf dem Papier eine Endlagerung nachgewiesen haben. Das Erkundungsbergwerk Gorleben (linkselbisch an der ehemaligen dt-dt. Grenze zwischen Niedersachen und Brandenburg) dient(e) als Zwischenlager für Castoren mit der Perspektive, auch als Endlager zu funktionieren. Das ist seit Ende 2020 ausgeschlossen, weil sich der Salzstock seitens der Wissenschaft als ungeeignet erwiesen hat und offiziell nicht mehr als Endlager zur Verfügung steht.

fehlendes Endlager

2013 verabschiedete der Bundestag das Gesetz zur Suche nach einem Endlager in Deutschland für hochradioaktive Abfälle; 2031 soll der Standort für das Endlager innerhalb Deutschlands gefunden sein – ergebnisoffen, transparent unter Beteiligung der Öffentlichkeit. Der Gesetzgeber verlangt die möglichst sichere Lagerung des Atommülls für eine Million Jahre. Er verlangt, dass die Bergung des Atommülls, falls notwendig, 500 Jahre lang möglich sein soll. Nach der Physik ist das eine notwendige Bedingung, nach menschlichem Ermessen ist dies einfach nicht fassbar. Die von CDU und FDP eingesetzte Ethik-Kommission hat schon 2011 festgestellt, dass „die Schaffung eines gesellschaftlichen Konsenses über die Endlagerung entscheidend mit der Nennung eines definitiven Ausstiegsdatums für die Atomkraftwerke zusammenhängt“. Mit dem Ausstiegsdatum wird die zu entsorgende Abfallmenge begrenzt und damit die Größe eines möglichen Endlagers überhaupt abschätzbar. Wer jetzt „Streckbetriebe“ über April 2023 hinaus, Neuinbetriebnahmen oder gar den Neubau von AKWs in die Diskussion bringt, handelt unverantwortlich, weil er die Endlagersuche torpediert und Öl in einen gesellschaftlichen Dauerkonflikt gießt.

Atomindustrie – von Beginn an ein Billionen-Grab

Das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS) hat in einer kürzlich erschienenen Studie für Green planet energy (https://green-planet-energy.de/news-politik/publikationen/pressebereich/artikel/atomkraft-hat-deutschland-bis-heute-mehr-als-eine-billion-euro-gekostet.html) Zahlen konkretisiert, die schon seit einiger Zeit diskutiert werden: In Deutschland sind seit 1955 gesamtgesellschaftliche Kosten aus der Nutzung der Atomenergie zur Stromerzeugung in einer Höhe von mehr als 1 Billion Euro angefallen. Mit Hilfe von Quellen aus den Jahren von 2007 bis 2019 konnten Kosten über 533 Mrd. Euro belegt werden, für die Jahre ab 1955 hochgerechnet überschreitet die Gesamtsumme die Billionengrenze.

Nach der Gründung des Bundesministeriums für Atomfragen im Oktober 1955 sind mit staatlicher Förderung mehr als 100 Atomanlagen entstanden; mit 296 Milliarden Euro hat der Staat seitdem direkt oder indirekt die Entwicklung gefördert. Da diese Kosten nie in die Kalkulation von Strompreisen eingegangen sind, konnte sich u. a. die Mär vom kostengünstigen Atomstrom bis heute halten.

Auch nach 2022 fallen weitere Kosten für die Allgemeinheit an: ca. 7 Mrd. Euro allein für die Sanierung des Atomlagers Morsleben, des Wismutabbaus, des Forschungsendlagers Asse (inzwischen abgesoffen) oder den Rückbau von AKW-Standorten. Völlig unklar ist, in welcher Höhe der 2017 eingerichtete Atomfond für die Endlagerkosten von uns Steuerzahler*innen aufgestockt werden muss. Beiträge für Euratom oder internationale Haftungsabkommen sowie Hermesbürgschaften an die Industrie für zukünftige ausländische Atomprojekte müssen gestoppt werden, damit dieses Faß ohne Boden endgültig gestopft wird.

Atomenergie-Nutzung funktioniert nur auf Kosten der nachfolgenden Generationen.

s. Text „Taxiert und für ungenügend befunden“ (07.02.2022)

Ein AKW ist auch in Deutschland eine Hochrisikotechnologie.

Weil das Risiko einer Havarie nicht vollständig ausgeschlossen ist, ist ein AKW nur sicher bis zum GAU, der allerdings sowohl bezogen auf die Umgebung als auch die Strahlungszeit unabsehbare Folgen hätte. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass AKW-Betreiber den Nachweis führen müssen, die Auswirkungen von Kernschmelzunfällen auf das Anlagengelände begrenzen zu können. Sollte diese Schadensvorsorge auch durch Nachrüstungen nicht erreichbar sein, so ist die Genehmigung nicht (mehr) zu erteilen. Deshalb haben AKW-Betreiber schon jetzt die Haftung für ihre Anlagen ab 01.01.2023 abgelehnt. AKWs und Endlager sind nicht versicherbar.

Wie die Situation rund um die französischen AKWs belegt, sind Atomkraftanlagen den Auswirkungen des Klimawandels nicht angepasst – sie fallen z. B. wegen Kühlungsproblemen zunehmend aus, wenn die Temperaturen ansteigen.

Atomkraftwerke gehören in Zukunft in eine (Anti-)Kriegsstrategie.

Der Krieg Russlands in der Ukraine hat bewiesen, dass AKWs zum einen ein Mittel im Kampf um Einfluss auf das gesellschaftliche Leben eines Staats sein können – bringe ich ein AKW unter meine Kontrolle, habe ich Einfluss auf die Infrastruktur und das Funktionieren im Staat. Drohgebärden, ein AKW mit einem Super-GAU zerstören zu können / wollen, sind die andere Seite der Medaille.

Auch (Cyber-)Terroristen bilden ein erhebliches Risiko für den Betrieb des AKWs, beim Transport atomaren Materials / Mülls sowie im Hinblick auf die Sicherheit des Endlagers.

Vorsicht, Grüne – CDU- / FDP-Falle droht!

Im Zusammenhang mit der Nutzung der Atomenergie (CDU und FDP-Vertreter nutzen nur den Begriff „Kernenergie“, weil er positiver [der Kern] klingt) fällt immer wieder von Vertreter*innen dieser Parteien der Begriff „Ideologie“, was sie negativ konnotieren und fest mit Bündnis 90 / Die Grünen zu verknüpfen versuchen. Sie unterstellen, dass Grüne von ihren „Genen“ her, also ohne die Vernunft einzusetzen, ideologisch verblendet, die Nutzung der Atomenergie in entsprechenden Anlagen ablehnen. Sie ärgert, dass die Menschen im Land den Grünen trotzdem in Fragen der Atomenergie die höchsten Kompetenzen zuweisen und die kritische Haltung gegenüber AKWs nach wie vor große Teile der Bevölkerung überzeugt. Wenn sie da jetzt einen Fuß in die Tür setzen könnten, die Grünen etwa einem „Streckbetrieb“ zustimmen würden, dann wäre die Meinungsführerschaft der Grünen in dieser Thematik futsch, und man hätte ihnen geschadet. Parteitaktisches Kalkül und nicht die Sicherheit in der Energieversorgung stehen im Hintergrund der aufgeregten Diskussionen. Nüchtern betrachtet taugen die AKWs in dieser Problemlage fast nichts (dazu demnächst mehr). Zusätzlich versucht besonders der ach so erfolgreiche Jens Spahn am Kompetenzast von Robert Habeck zu sägen, ihm Versagen in der Klimapolitik, dem Herzensthema der Grünen, nachzuweisen, weil er Kohlekraftwerke in dieser Energie-Notlage aus der Reserve holt.

Dagegen können wir BündnisGrünen zum Nutzen aller Mitbürger*innen nur erfolgreich sein, wenn wir der Forderung, AKWs in Betrieb zu halten, differenziert widersprechen, weil sie zu riskant und nur marginal wirksam sind, auf massive und systematische Energieeinsparungen sowie Effizienzsteigerungen setzen, weil sie ökologischer sind, Erneuerbare so schnell wie möglich ausbauen, weil sie national und global die Zukunft sind.

Autor: Dieter Wiebusch

bisher vom Autor in der Homepage zum Thema „Energie“ veröffentlichte Artikel:

  • „Taxiert und für ungenügend befunden“ (07.02.2022) – EU-Taxonomie zu Atom und Erdgas
  • „Der Preis von Erdgas ist heiß“ (17.02.2022) – Strom-Preis und Mechanismus der Preisbildung über Merit-Order

Es folgen demnächst Texte zu folgenden Inhalten

  • Sicherung von Strom- und Gasversorgung
  • Strom- und Gas-Preis
  • neue Bestimmungen bei der PV-Nutzung
  • Windenergie in Sachsen
  • Agro-PV-Anlagen
  • Erfahrungen mit PV-Nutzung und Speicherung
  • ….