Irrlichter über Pirna

Die Kundgebung der Freien Wähler auf dem Pirnaer Marktplatz am 03.10.22 steht nicht in der Tradition der Montags-Demonstrationen des Jahres 1989, selbst wenn Ort und Zeit dies nahelegen sollen.

Die Freien Wähler Pirna in Person des Fraktionsvorsitzenden R. Böhmer machen sich Sorgen darüber, dass sie „nicht mehr (ihrer) Verantwortung – Schaden von der Stadt, von unserer Bevölkerung abzuwenden – nachkommen können“. Die Energiekrise gefährde den sozialen Frieden in Pirna. Deshalb ruft die Partei zu einer Kundgebung ohne Plakate etc. auf dem Marktplatz in Pirna auf, symbolträchtig am Tag der deutschen Einheit. Dies ist ein politischer Akt in unserer Demokratie. Die Stadtratsfraktion der Freien Wähler sucht die Unterstützung der Bevölkerung, um denen da oben mal zu zeigen, was Sache ist („den Verantwortlichen im Land und in Berlin müsse (dies) vor die Nase gehalten werden. Es muss sich was ändern, so wie es jetzt laufe, gehe es auf keinen Fall weiter“).

Zwischenfragen: Welche Fakten zeigen, dass die da oben nichts von der existentiell äußerst schwierigen Lage der Betriebe und Bürger*innen wissen? Lesen die wirklich keine Zeitungen oder sind im Land unterwegs? Melden die örtlichen Abgeordneten. der Parteien, Sozial-, Industrieverbände, Energieversorger, Mieterorganisationen etc. wirklich nichts von dem, was vor Ort passiert, an die Fraktionen im Land- oder Bundestag weiter?

Während der Kundgebung wolle man „rein auf Fakten basierend“ vorgehen, aber auch „damit einhergehenden Forderungen eine Bühne geben – und zwar unpolitisch und im Interesse der Pirnaer Bürger“. Dabei hat Herr Böhmer aber schon eingangs beklagt, dass die Fraktion ihrer Verantwortung eigentlich nicht mehr nachkommen könne.

Negative Emotionen machen’s kälter

Konfuser geht es gar nicht. Dass Herr Böhmer in seinem Text zu allem Übel gleich selbst die Lunte an den sozialen Frieden legt, wenn er seine Überzeugung herausstellt: „Ich persönlich rechne auch mit einem enormen Anstieg der Kriminalität“, fällt ihm dabei nicht auf. Seine Prognose ist: Liebe Pirnaer*innen, es wird Menschen geben, die ihre Mieten, ihre Energiekosten nicht mehr bezahlen können oder gar Hunger leiden – du musst zukünftig oft damit rechnen, dass sie dich berauben, um überleben zu können. Ist das nicht eher die Vorgehensweise der AfD, nämlich Kapital aus Angst-Phantasien zu ziehen? Dass hier die Stadt durch konkrete Beschlüsse (Moratorien bei der städtischen Wohnungsbaugesellschaft oder den Stadtwerken, Unterstützung der Tafel, Plätze zum Aufwärmen etc.) gegensteuern könnte, kommt ihm nicht in den Sinn.

Falsch ist es, die Energiekrise ohne den Zusammenhang mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands und der damit weiter verschärften Gaspreis-Explosion ansprechen zu wollen. (Auch vor dem Krieg wurde schon mit dem begrenzt verfügbaren Rohstoff Gas spekuliert!) Geradezu fahrlässig ist es, die Energiekrise nicht der Klimakrise inhaltlich zuzuordnen. Wenn man Energie- und Klimakrise zusammendenkt, stimmt es eben nicht, dass „das eine Situation ist, der wir schuldlos gegenüberstehen!“ Hier eröffnet sich ein Feld, dass Herr Böhmer jetzt endlich überfraktionell beackern kann: die kommunale Energiewende. Da herrscht in den Ratssitzungen von seiner Seite aber eher Schweigen bzw. Destruktion. (alle Zitate aus SZ-Artikel vom 28.09.22)

All-In-Forderung aus SOE

Der Landrat M. Geisler hat am 26.09.22 eine Presseerklärung zusammen mit den Bürgermeister*innen in SOE, also auch Pirnas OB, veröffentlicht. Das, was der Staat inzwischen an Entlastungspaketen für Bürger*innen und Unternehmen aufgelegt hat, wird dabei mit keinem Wort gewürdigt.

Das neue, zusätzliche 200-Milliarden-Paket der Bundesregierung mit einer Gas- und Strompreis-Bremse ist erst am 30.09 beschlossen worden.

Dezidiert haben Landrat und Bürgermeister*innen in ihrem Papier dargestellt, dass Gas und in Folge davon Strom teuer sind und (alle?) Unternehmen wie auch (alle?) Bürger*innen über die Maßen unter den Preissteigerungen leiden, so dass das wirtschaftliche, soziale und politische System gefährdet erscheinen. Die (wirtschaftliche) Wahrheit ist: Das Gas ist teuer, weil es ein rares Gut ist. Wir müssen es weltweit in Konkurrenz zu anderen Ländern, die es noch bitterer nötig haben, zu horrenden Preisen beschaffen, um die Versorgung unserer Bürger*innen und Unternehmen abzusichern. Das sind marktwirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten, wenn ein Mengenproblem herrscht. Aus dem kommen wir nur durch Sparen heraus – dazu fehlen in dem Papier der Verwaltungsspitzen jegliche Initiativen auf der SOE-Ebene. Ebenso fehlt der Appell an die Bürger*innen, mitzuhelfen und Verständnis / Geduld zu haben.

Die Flucht in eine Scheinlösung

Im Unterschied zur Erklärung des dt. Städtetags (28.09.22), bei dem diese Passage fehlt, schreiben Landrat und Bürgermeister*innen: „Wir fordern die Bundesregierung im Namen unserer Einwohnerschaft auf, ideologische Erwägungen beiseite zu legen und schnell und unbürokratisch zu entscheiden und zu handeln. Unverzüglich muss aus unserer Sicht veranlasst werden, alle Kraftwerke, einschließlich Atom- und Kohlekraftwerke, auf Volllastbetrieb hochzufahren. Damit kommt Bewegung in den Strommarkt und Entlastung in den Gasmarkt, da schrittweise Gaskraftwerke abgeschaltet werden können. Es darf keine Denkverbote geben bei dem Bemühen, die Bevölkerung zu entlasten.“ Klingt nach Originalton Kretschmer.

Denk mal faktenbasiert

  • Nur 10 % des Gases werden in Deutschland für die Stromproduktion genutzt. Das letzte, flexibel einzusetzende Gaskraftwerk („Grenzkraftwerk“) muss die Lastspitzen abfangen, bestimmt dann aber die Höhe des gültigen Strompreises.
  • Noch so viele Kohle- oder Atomkraftwerke können diesen Part nicht übernehmen, weil sie nur zur Absicherung der Grundlast fähig sind; selbst wenn sie mal in den Rang des Grenzkraftwerks kommen, ist ihr Strom deutlich teurer als der aus regenerativen Energiequellen.
  • Die Bundesrepublik hat sich per Gesetz verpflichtet, den Pariser Vertrag zu erfüllen und für Klimaneutralität ab 2045 zu sorgen. Um dieses Ziel zu erreichen, kann nicht Deutschland einfach mal so pausieren. Die sofortige Reduktion von CO2 ist extrem wichtig, um weitere Kipppunkte in der Klimaveränderung zu vermeiden.
  • Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil von 2021 verfügt, dass wir nicht permanent auf Kosten folgender Generationen wirtschaften dürfen.
  • Trotz der Krise muss es also immer um Nachhaltigkeit gehen, und über die entscheiden Kommunen, Unternehmen und Menschen vor Ort (s. Artikel vom 07.02.22 in dieser Homepage).
  • Denn vor Ort leiden alle, wenn die menschengemachte Klimakrise mit Höchsttemperaturen, Waldbränden, Dürre, Wassermangel, aber auch Starkregenereignissen zuschlägt.
  • Die drei AKWs laufen noch bis zum Jahresende – sie hatten und haben kaum dämpfenden Einfluss auf die Höhe des Strompreises; selbst wenn sie bis April 2023 weiterlaufen müssen, beeinflussen sie die Preisbildung laut Stresstest (06.09.22) nur im Promille-Bereich. Vielmehr zeigt der Vergleich mit Frankreich (Land mit hohem Anteil an AKW-Strom), dass dort der Strompreis ebenso vom Gaspreis bestimmt wird und ähnlich schwindelerregende Höhen wie bei uns erreicht (s. Artikel vom 17.02.22 in dieser Homepage).
  • Es gibt inzwischen etliche Tage im Jahr, an denen das gesamte Stromangebot aus regenerativen Quellen zur Verfügung gestellt wird. Zu diesen Zeiten ist der Strom an den Markthandelsplätzen unschlagbar billig, weil die Gestehungskosten von Strom aus Wind, PV, Biogas oder Wasser im Vergleich zu Kraftwerken auf Kohle-, Öl-, Atom- oder Erdgas-Basis sehr günstig sind.
  • D. h., wenn wir All-In bei den regenerativen Energien anstreben, haben wir das Preisproblem gelöst.
  • Die vier Netzbetreiber haben im Stresstest belegt, dass wir im Winter 2022/23 kein Strommengen-Problem, sondern ein Problem der Netzstabilität haben. Das bedeutet, dass die Empfehlung der Verwaltungsspitzen nach dem Motto ‚viel macht viel’ in die Irre führt, weil im Süden mangels Kohle nur wenige Kohlekraftwerke vorhanden sind.
  • Beim Redispatch der Netzbetreiber müssen im Norden regelmäßig Windkraft- und Solaranlagen abgeschaltet / heruntergefahren (und entschädigt) werden, um Netzengpässe von Norden nach Süden in den Übertragungsleitungen durch das Hochfahren von Gaskraftwerken (flexibel, aber teuer) im Süden zu kompensieren. Aufgrund des Merit-Order-Systems (markwirtschaftlich bestimmtes Modell der Preisbildung am Strommarkt) wirkt sich der billige Strom der Küste bei der Preisbildung nicht mehr aus ( Artikel vom 07.02.22 in dieser Homepage). Es gibt andererseits Konstellationen, wo Bayern und Frankreich von dem billigen Stromeinkauf (ohne tatsächlich Ökostrom zu erhalten) über die Maßen profitieren, was dann über Netzentgelte zu Lasten aller Bürger*innen ausgeglichen wird.
  • Wenn Landrat und Bürgermeister*innen stattdessen fordern würden, dass Bayern (und Thüringen) sofort die Stromtrassen für den Transport des Küstenstroms ausbaut und endlich die Behinderungen für den Bau von Windkraftanlagen aufgibt, dann wäre das im Sinne eines preisgünstigen Stromangebots.
  • Aber auch bei uns können die Verwaltungen z. B. behördliche Abnahmen von fertigen Windkraft- und PV-Anlagen beschleunigen oder neue, geeignete Flächen für WKA und/oder PV zügiger ausweisen. Zusätzlich ist die Ansprache der Bürger*innen dringend notwendig, um Akzeptanz zu fördern.
  • Die Nutzung der Atomkraft in Deutschland ist seit 2010 per Gesetz überparteilich mit dem Ausstiegsdatum 31.12.2022 festgelegt. Auf dieser Basis ist 2013 vom Bundestag mehrheitlich ein Beschluss gefasst worden, dass bis 2031 ein Standort für die Lagerung hochradioaktiven Materials gefunden werden muss. Dieses Suchverfahren ist undurchführbar, wenn die Betriebszeiten von AKWs nach hinten gestreckt und damit die Mengen des einzulagernden Atommülls nach oben hin offen sind (s. Artikel vom 19.09.22 in dieser Homepage).

Angesichts dieser Fakten von Denkverboten zu schreiben / reden und alles an „die da oben“ zu schieben, ist verantwortungslos und sehr bequem. Hier quer zu denken, wäre im Sinne dieses schönen, aber leider auf den Hund gekommenen Wortes dringend auch seitens der Verwaltungsspitzen erforderlich.

Autor: Dieter Wiebusch

 

bisher in der Homepage zum Thema „Energie“ veröffentlichte Artikel:

„Taxiert und für ungenügend befunden“ (07.02.2022) – EU-Taxonomie zu Atom und Erdgas

„Der Preis von Erdgas ist heiß“ (17.02.2022) – Preis von atomarem Strom und Mechanismus der Preisbildung über Merit-Order

„AKW – nee“; Replik auf die Ideen von M. Kretschmer (19.09.2022) – gesetzliche Bestimmungen zur Atomkraft, Argumentation zur Sackgasse AKW-Nutzung