Pirnas Freie Wähler geben sich solidarisch und promoten sich selbst

Die Vereinigung Freie Wähler hat in Pirna einen gelungenen Coup gestartet – das muss der Neid ihr lassen. Vor dem Rathaus in Pirna organisiert sie am 03.10.22 angeblich eine Versammlung zu den Nöten der Pirnaer Bürger*innen sowie Firmen und nutzt dies, um die Vorstellung des eigenen OB-Kandidaten am 04.10. vorzubereiten. Schade, dass man sich als Zuhörer*in nun benutzt vorkommen muss.

„Wir müssen dieser medialen Lust an der Krise eine Politik der Zuversicht entgegensetzen.“ (G. Voht, Generalsekretär der Freien Wähler)

Diese Botschaft ist beim Freie-Wähler-Führungstrio Böhmer, Thiele, Vater in Pirna offenbar noch nicht angekommen. Obwohl Herr Dreßler, Bürgermeister in Pirna, noch am Dienstag, 27.09.22, während der Ratssitzung zur Mäßigung aufgerufen und die zahlreichen Entlastungsmaßnahmen der Bundes-, der Landesregierung sowie der Kommune vor Augen geführt hatte, überbieten sich die Matadore der Freien Wähler auf dem Marktplatz in Untergangsrhetorik: Exodus ganzer Wirtschaftsbranchen, drohende Armutswelle, Ruin der Gesellschaft, Verderben, gefressen durch Inflation, gesellschaftlicher Niedergang, keine Luft zum Atmen.

Wer hat hier eigentlich Lust am Zerreden einer Zukunft?

Politik der Zuversicht – was für eine Phrase bei den Freien Wählern

Hatte Herr Böhmer am 28.09.22 noch ganz harmlos angekündigt, dass es sich um eine faktenbasierte Veranstaltung ohne politische Botschaften handeln sollte, versteigt sich der OB-Aspirant R. Thiele auf dem Marktplatz zu der verschwörungstheoretischen Aussage, „die Bundesregierung hat die Menschen und das Land in eine noch nie dagewesene Energiekrise manövriert“.

Fakten sind:

  • Im Juli 2021 sind die der russischen Gazprom gehörenden Gasspeicher in unserem Land beinahe leer.
  • Der Gaspreis in Deutschland und Europa klettert von 19,40 Euro / MWh (01.01.2021) auf 160 Euro / MWh im August 2021 und erreicht am Jahresende 2021 die neue Höchstmarke von 222,52 Euro / MWh.
  • Die neue Bundesregierung ist zu diesem Zeitpunkt erst seit 20 Tagen im Amt. Wer hat da wen manövriert?
  • Wirtschaftsminister R. Habeck hat sich bis zum heutigen Tag dagegen gewehrt, den Gashahn in eigener Regie zuzudrehen, was viele bedeutende Menschen als Sanktionsmaßnahme gefordert hatten. Wo wäre der spekulative Gaspreis heute, wenn wir sofort vollständig abgesperrt hätten und immer noch auf fast leeren Gasspeichern säßen?

Während der Kundgebung fällt lt. SZ und Pirna-TV nicht eine Bemerkung, die man als konstruktive, politische Aussage werten könnte. Die Freien Wähler Pirna stehen als gestaltende Kraft in dieser Krise einfach nicht zur Verfügung. Weil es so ist, kommt Herr Böhmer in der Homepage der Freien Wähler Pirna für sich nach der Veranstaltung zum Resümee: „Die Emotionen, die hochkamen, rechtfertigen die Veranstaltung.“

Die Gastredner sind lt. Böhmer kurzweilig und prägnant.

Herr Flörke, seines Zeichens Geschäftsführer der Stadtentwicklungsgesellschaft Pirna (Wie kommt er eigentlich hierher? Hat er eine Genehmigung für seinen Auftritt in offizieller Funktion? Oder ist dies ein Fall für eine Dienstaufsichtsbeschwerde?), spricht höchst bedeutungsvoll in die TV-Kamera, dass „wir aus Statistiken schon nachvollziehen können, dass jeder zweite Gastronom in Pirna darüber nachdenkt, wie er den Winter überstehen soll.“ So, so, Statistiken zum Nachdenken über den zukünftigen Winter!! Wie passt eine Befragung der SZ unter etlichen Pirnaer Gastronomen rund um den Marktplatz vom 06.10.22 dazu, in der es heißt, dass „es trotz der angepassten Preise eine gute Nachfrage der Gäste gibt, die sich auch in Zukunft einen Restaurantbesuch leisten wollen und können.“ Soweit also zur prognostischen Kompetenz des einen Gastredners.

Frau Hermenau, nach eigenem Bekunden Strategin, Begleiterin und Kommunikatorin, gibt zum Besten, dass „die Energiepolitik verfehlt, die Energiewende gescheitert, alles verantwortlich für hohe Preise und Inflation ist:“ Sie weiß, dass „ein Backup-System für mehr Energie aus Wind und Sonne fehlt. Bisher haben Gaskraftwerke geholfen, das Energienetz stabil zu halten; das Gas ist nicht da, also fehlt ein Backup.“

Fakten sind:

  • Die Gasspeicher sind zu mehr als 90% gefüllt, es wird ständig Gas per Pipeline aus Norwegen und ab Dezember per LNG aus der Welt nachgeliefert, so dass die Bundesregierung von einer Gassicherheit für den Winter ausgeht; allerdings steht dies unter dem Vorbehalt, dass wir alle Gas- und Stromenergie einsparen – das wäre doch ein konstruktiver Ansatz für die hiesigen Bau- und Immobilienmagnaten der Freien Wähler!!!!!
  • 10% des Gases werden für die Stromerzeugung genutzt, vor allem zum Abpuffern der Lastspitzen, was den Strompreis aufgrund der Gaspreis-Spekulation z. Zt. extrem verteuert.
  • Die Gaskraftwerke gehören zur kritischen Infrastruktur, die bei einer Gasmangellage vorrangig beliefert werden würde.
  • Der Stresstest der deutschen Netzbetreiber zeigt: Für die Grundlast der Stromerzeugung stehen regenerative Energieträger und (Braun- sowie Steinkohle-)Kohlekraftwerke in ausreichendem Maße zur Verfügung. Es fehlt nicht an Stromleistung.
  • Zwischen dem energiereichen Norden und dem schwächelnden Süden müssen die Netzbetreiber per Redispatch, im Bedarfsfall also per zugeschalteter Gaskraftwerke, zur Erhaltung des 50-Hertz-Netzes beitragen – das ist die Absicherung, die automatisch in jeder Sekunde durch europaweite Netzverschaltungen erreicht wird.
  • Die Netzstabilität ist unter einem Worst-Case-Szenario (schlechteste Voraussetzungen aus Frankreich) trotz der katastrophalen Energiepolitik in Bayern im Notfall abgesichert, weil die Bundesregierung Ersatzleistungen im europäischen Ausland für das Redispatch vertraglich einkauft und das Netzlastmanagement verbessert.
  • Alle Experten verneinen die Gefahr eines Blackouts (also einen chaotisch entstehenden Stromausfall) für Deutschland, stellen allerdings die Möglichkeit eines bewusst herbeigeführten, lokalen und kurzzeitigen Lastabwurfs als evtl. notwendig in Aussicht, wenn z. B. durch Auktionen von Strom- und Gaskontingenten nicht genügend kompensiert werden kann.
  • Der Stresstest zeigt: Die noch im Betrieb befindlichen Atomkraftwerke tragen zur Netzstabilität (wenn überhaupt, dann nur im Süden) und zum Stromangebot nur unwesentlich bei.
  • Aufgrund der langfristigen Planung seit August 2011 (Atomausstiegsgesetz von CDU und FDP) hat das AKW Emsland nur noch so wenig Atommaterial im Reaktorraum, dass es schon vor dem 31.12.2022 in den Streckbetrieb (also strecken des Betriebs bei ständig verringerter Leistung) gehen müsste, um überhaupt bis zum 15.04.2023 durchhalten zu können.
  • Atomkraftwerke können keine Leistung für den Wärmemarkt anbieten.

Haben die Freien Wähler Pirna von dieser Gastrednerin nach den bekannten Vorgeschichten und inhaltlichen Überschneidungen wirklich etwas Anderes als Parolen erwartet, die auch von der AfD bekannt sind?

Ein Beitrag zum sozialen Frieden sieht anders aus

Sind die Freien Wähler Pirna mit dieser Veranstaltung ihrer Verantwortung als Vereinigung im politischen Leben Pirnas gerecht geworden?

Bündnis 90 / Die Grünen bedauern, dass die Freien Wähler Pirna durch diesen Aktionismus wieder einmal nicht zum sozialen Frieden in unserer Stadt beigetragen haben. Nach der Ankündigung, dass man jetzt steigende Kriminalität erwarte, nach der unzulässigen Verknüpfung der feigen Mordtat mit dem Vorschlag der Stadtverwaltung, an bestimmten Stellen in Pirna Beleuchtungsstrom einzusparen, nach dem Sprechverbot für die vom OB eingeladene Bürgerinitiative gegen den IPO und vieles mehr sind wir aber auch nicht überrascht, denn es passt ins Bild. In ihrer Pressemitteilung zum Aufruf für die Kundgebung vom 28.09. hatten die Freien Wähler ja auch schon bekannt, dass „sie nicht mehr der Verantwortung nachkommen können, Schaden von den Bürger*innen und der Stadt abzuwenden“. Herr Böhmer kommt in seiner Reflexion zur Veranstaltung zu dem Schluss, dass „es gelungen war, weil wir es wichtiger denn je finden, Missfallen an der Politik zu äußern, eben weil diese Politik gerade unser Land ruiniert.“ Das ist die Axt in der Hand eines Politikers, der in diesem politischen System tätig ist. Wollen wir dieser Vereinigung wirklich demnächst unsere Stadt anvertrauen?

Da muss uns eine Alternative einfallen!!!

 

Autor: Dieter Wiebusch