Ein Bürgerrat in Pirna – Lernfeld und Mehrwert

Nun ist es entschieden. Pirna wird einen Bürgerrat (BR) bekommen. Auf Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen / SPD wurde der BR im März 2022 vom Stadtrat angenommen. Eine kleine Sensation! Die Stadtverwaltung formulierte den entsprechenden Förder-Antrag beim Sächsischen Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung. Der Antrag hatte Substanz und wurde positiv beschieden. Pirna kann demnächst also modellhaft ein Projekt starten, das zu 90% vom Land gefördert wird.

Was ist das überhaupt, ein Bürgerrat?

„Wir haben doch einen Stadtrat? Wozu dann noch einen Bürgerrat?“  Diese Fragen mag sich manche/r gestellt haben. Es ist richtig, dass der Stadtrat, das gewählte städtische Parlament, weiter die Entscheidungen trifft. In ihm sitzen 26 Rät/innen plus Oberbürgermeister, 24 männlich, 3 weiblich. Von der Altersstruktur her dürfte kaum ein Stadtrat oder eine der drei Rätinnen unter 50 Jahren sein. Das ist nicht schlimm, bildet aber genauso wenig die Bevölkerung unserer Stadt ab wie die Verteilung der Geschlechter. Viele Ratsmitglieder haben über die Jahre schon politische Erfahrung gesammelt. Auch das kann von Vorteil sein. Jedoch waren nur 41 % der Ostdeutschen 2018 überzeugt, dass Politiker/innen die Interessen der Bevölkerung vertreten.[1] Wenn das so ist, wäre die Schlussfolgerung, dass die Bevölkerung ihre Interessen selbst vertreten muss. Denn Demokratie lebt vom Mitreden, vom Mitmachen, vom Aushandeln kontroverser Positionen, vom Austausch von Fakten und Meinungen. Das ist besonders wichtig in Zeiten, in denen das Fundament unter den Füßen wacklig wird, in denen alte Gewissheiten nicht mehr gelten und die Orientierung schwerfällt, weil sich Krisen aufeinanderschichten.

Dass auch in Pirna das Vertrauen in die repräsentative Demokratie schwindet, darüber haben wir schon berichtet. Manche politische Gruppierung verschärft die Vertrauenskrise noch. Sie reden von „denen da oben“, die angeblich nicht wissen, wie es „denen da unten“ geht.

Bürgerräte gehen einen völlig anderen Weg. Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus treffen sich zu einer konkreten Fragestellung. In ihre Entscheidungsfindung fließt die Alltagsmeinung der Bürger/innen ein. Die Treffen werden professionell moderiert. Für die inhaltliche Tiefe lädt sich der BR Expert/innen ein. So kann ein Bürgerrat komplexe Fragestellungen bearbeiten, für die in einer Sitzung des Stadtrates einfach keine Zeit ist. Der Bürgerrat ist keine Konkurrenz zum gewählten Rat der Stadt, sondern dient der Vorbereitung substanzieller Ratsentscheidungen. Er stellt auch keine demokratische Konkurrenz zu „Bürgerbegehren“ und „Bürgerentscheid“ dar, die als plebiszitäre Elemente in der Kommunalverfassung festgelegt sind. Bei diesen beiden Elementen geht es um Ja / Nein-Entscheidungen, die selten geeignet sind, der Komplexität der Fragestellung gerecht zu werden. Das schafft ein Bürgerrat deutlich besser.

Wie kommt ein Bürgerrat zustande?

Die Zusammenstellung erfolgt durch ein Losverfahren per Zufallsalgorithmus mit Hilfe des Melderegisters. Es werden mehrere Hundert Personen ausgelost. Die ausgelosten Personen werden angeschrieben und um eine vertraulich zu behandelnde Rückmeldung zu ihrem Alter, Bildungsstand, Geschlecht, Stadtteil etc. gebeten. An der Auslosung nehmen alle Pirnaer Einwohner/innen im Alter von 16 – 90 Jahren teil. Die Auslosung wird organisiert und durchgeführt durch die Stadtverwaltung.

Es ist davon auszugehen, dass nicht alle angeschriebenen Personen die Fragen beantworten und zurücksenden werden, denn es herrscht Freiwilligkeit. Am Ende des Auswahlprozesses steht ein Bürgerrat mit ca. 30 Mitgliedern. In dieser Größenordnung kann er sowohl digital als auch in Präsenz tagen und arbeitsfähige Untergruppen bilden.

Der Bürgerrat trifft sich in einem selbstbestimmten Turnus zu einer ausgewählten Fragestellung. Der erste Pirnaer Bürgerrat wird sich auf Wunsch des Stadtrats das Thema „Marktplatzgestaltung. Der historische Markt im 21. Jahrhundert“ vornehmen.

Die Stadtverwaltung und der Stadtrat sind an den laufenden Beratungen des BR nicht beteiligt. Der Bürgerrat entscheidet selbst, welche Expert/innen er sich einlädt. Er agiert völlig autonom. Seine Beratungen werden von einem professionellen Team moderiert, das ebenfalls eigenständig und unbeeinflusst handelt.

Und die Ergebnisse?

„Die Ergebnisse von Bürgerräten haben keine politische Farbe. Sie stammen nicht aus einem Lager.“[2] Wenn so unterschiedliche Menschen zusammenkommen und gemeinsam eine Empfehlung abgeben, ist davon auszugehen, dass diese Empfehlung am Ende eine hohe Legitimität besitzt und einer allgemein akzeptierten, vernünftigen Lösung sehr nahe kommt.

Die Ergebnisse des BR gehen zurück an den Stadtrat. Dieser hat sie zur Kenntnis zu nehmen und sollte sie idealerweise in seine endgültige Entscheidung einfließen lassen. Wenn der Stadtrat der vom BR vorgeschlagenen Lösung der Thematik nicht folgen will / kann, muss er der Stadtgesellschaft eine Begründung für seine letztendlich getroffene Entscheidung vortragen.

Wir können davon ausgehen, dass die Einberufung eines Bürgerrates in Pirna mit großer Aufmerksamkeit verfolgt werden wird. Kann das Los doch jede/n treffen. Alle Schritte werden deshalb transparent gestaltet. Auskünfte zum Beratungsprozess und die Ergebnisse werden vom BR veröffentlicht und der Stadtgesellschaft in Medienberichten zugänglich gemacht und ggf. kommentiert.

Fazit

Etliche Menschen, die im Bürgerrat versammelt sind, werden zum ersten Mal in ihrem Leben erfahren, wie mühevoll Aushandelungsprozesse sind. Prozesse, die zu einer allgemein akzeptierten Lösung beitragen. Aber auch, wie zufriedenstellend es ist, eine solche Lösung gefunden zu haben. So kann ein erfolgreicher BR dazu dienen, dass verloren gegangenes Vertrauen in demokratische Abläufe und Institutionen zurückgewonnen wird. Die unabhängige Moderation erzwingt sachlich vorgetragene Pro-Contra-Argumente. Die Teilnehmer/innen hören einander zu, müssen sich mit verschiedenen Sichtweisen beschäftigen und so, zumindest zeitweise, die Welt einmal aus einer anderen Perspektive sehen. Deshalb ist ein Bürgerrat auch das Gegenteil von Populismus, ist keine „Mecker–Veranstaltung“. Er ist eine Ergänzung zur parlamentarischen Demokratie und für die teilnehmenden Personen ein Lernfeld. Wer sich mit anderen Positionen auseinandersetzen muss, verlässt den Schwarz – Weiß – Modus und dringt in Grauzonen ein, die den politischen Alltag ausmachen. [3] Vielleicht kommt in Pirna aber auch eine bunte Zone heraus, ein Marktplatz, auf dem sich alle wohlfühlen.

Ein Lernfeld wird der BR aber auch für die Stadtverwaltung und den Stadtrat sein. Wir dürfen gespannt sein, ob auch hier das Vertrauen in die Gestaltungsfähigkeiten und die Kreativität  der Stadtgesellschaft wächst.

[1] Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jg. 30, 2020

[2] Claudine Nierth. Mitorganisatorin des Bürgerrats. Deutschlands Rolle in der Welt. In: taz vom 20./21.02.2021, S. 21

[3] Vgl. ebenda

 

Dr. Bärbel Falke